Wiederentdeckungen nötig
Wie geht die Gesellschaft mit den Schwächsten um, den Alten und Kranken? - Ein Vortrag in Dresden
Dresden. "Jeder Vierte? - Psychische Krankheit in der Gesellschaft" hieß eine Veranstaltung während der "Woche für das Leben" in Dresden. Heraus kamen dabei auch Erkenntnisse für die Kirchen.
"Die Kirchgemeinden müssen sich wieder darauf besinnen, dass Gottesdienst und Menschendienst zusammengehören." Der das sagt, ist kein Theologe, sondern der Psychiater Klaus Dörner aus Hamburg. Es war die Beschäftigung mit seinem Fachgebiet, die ihn zu dieser Erkenntnis gebracht hat. Allerdings sind die Kirchgemeinden nur ein Teil in seiner Vorstellung vom Umgang der Gesellschaft mit psychisch Kranken. Wie der Psychiatrieprofessor und langjährige Klinikleiter sich das vorstellt, erläuterte er in Dresden bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie des Bistums, des Hygienemuseums und der Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit.Schwelle des Unwohlseins wird tiefer gelegt
Die Statistik sagt: 27 Prozent der Bevölkerung in der Europäischen Union müssen damit rechnen, einmal im Jahr an einer psychischen Störung zu erkranken. Dörner stellt diese Zahlen nicht in Frage, relativiert sie aber. Die Zahl der schweren psychischen Erkrankungen bleibe über lange Zeiträume konstant: Etwa je ein Prozent der Bevölkerung sind schizophren oder manisch-depressiv, weitere drei Prozent geistig behindert. Zugenommen habe die Zahl leichterer psychischer Störungen. Dörner: "Heute wird die Schwelle des Unwohlseins immer tiefer gelegt." Während sich die Menschen früher gesagt hätten, solches Unwohlsein gebe es halt manchmal oder in einer psychischen Krise eine Chance zur persönlichen Reifung gesehen hätten, heißt es heute: "Geh zum Psychotherapeuten, der macht dir das weg."
In den letzten 20 Jahren habe sich die Zahl der Psychotherapieanbieter verachtfacht. Dörner: "Und die wollen alle Geld verdienen. Dabei werden mit Vorliebe die leichteren Fälle gewählt, weil da ein Behandlungserfolg einfacher ist." Schon heute hätten die neopsychisch Kranken (wie Dörner sie nennt) die Herz-Kreislauf- Erkrankten vom ersten Platz in der Krankenhausbettenbelegung vertrieben. "Und bei der Frühverrentung nehmen sie das in Angriff." Nach seiner Schätzung müssten aber zehn bis 30 Prozent derer, die in einer Psychotherapie Hilfe suchen, wegen mangelnder Krankhaftigkeit abgewiesen werden.
Trotz dieser Entwicklung bleiben psychische Krankheiten ein Tabu. Um das zu erklären, blickt Dörner in die Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Damals entwickelte sich eine gesellschaftliche Trennung in Leistungsstarke und Schwache. Die Starken sollten sich ungestört auf ihre Arbeit konzentrieren können. Die Schwachen wurden ausgesondert. Die Devise hieß: "Stationär vor ambulant. Und eine Integration der Kranken in die Gesellschaft wurde nicht abgestrebt, denn eine Vermischung beider Gruppe hielt man nicht für gut."
Das hatte durchaus positive Folgen: Die Familien wurden von der Sorge um ihre Kranken entlastet und es entstanden die "helfenden Berufe". Im Zuge dieser Entwicklung trennten die Kirchen Gottesdienst und Menschendienst. Die Gemeinden sollten sich auf die Liturgie konzentrieren, während die Caritas in den Wohlfahrtsverbänden professionalisiert wurde.
Bürgerhilfe, wo möglich. Profihilfe, wo nötig.
Trotz aller Reformen halte die Trennung der Gesellschaft in Starke und Schwache bis heute an, beklagt Dörner. Zusammen mit der steigenden Alterspflegebedürftigkeit entstehen der Gesellschaft inzwischen immense Finanzierungsprobleme. "Was tun?", fragt Dörner und hat eine Antwort: Das Stichwort heißt Bürgerhilfe und das Motto "Bürgerhilfe, wo möglich. Profihilfe, wo nötig."
Seit den 80er Jahren werde das in Ansätzen praktiziert und ausprobiert. Freiwilligendienste, die Hospizbewegung, die neue Aidshilfe-Kultur, Selbsthilfegruppen, Bürgerstiftungen, generationsübergreifendes Siedeln oder Pflege- und Gastfamilien auch bei Alterspflegebedürftigkeit nennt er als Stichworte. Für besonders wichtig hält er ambulante Wohngruppen. "Sie sind nur halb so teuer wie Heime, bieten aber doppelt so viel menschliche Zuwendung." In der Altenpflege rechnet man mit acht Wohngruppen-Plätzen pro 2000 Einwohnern. Es gebe die ersten Kommunen, die sich so "heimfrei" machen. Künftig sollten Bürger sich nicht nur für Kindergarten-Plätze engagieren, sondern auch für ambulante Wohngruppen.
Um bürgerschaftliches Engagement zu stärken, hält Dörner zwei Wiederentdeckungen für notwendig: die soziale Zeit (Zeit zwischen Arbeits- und Freizeit, die jemand für die Gemeinschaft einsetzt) und den dritten Sozialraum zwischen Familie und Staat (also etwa Nachbarschaft oder Stadtviertel). Genau hier könnten auch die Kirchgemeinden wieder eine Rolle spielen. Dörner: "Sie hatten früher die ideale Größe für einen dritten Sozialraum und waren deshalb im Alltag tragfähig. Heute, mit der Konzentration auf die Liturgie rennen ihr die Leute weg."
Wenn diese Wege weitergegangen werden, ist Dörner zuversichtlich, was die künftige Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens betrifft, denn: "Dann haben wir die finanziellen Mittel für die wirklich Schwerkranken."
Von Matthias Holluba