Kirche ist stets neu zu gründen
Wie Glaube weitergehen kann - Ein Gespräch mit der Erfurter Pastoraltheologin Maria Widl
Angesichts kleiner werdender Gemeinden und zurückgehender Ressourcen werden vielerorts die Seelsorgestrukturen geändert. Wie aber kann heute christliches Leben aussehen? Und welche Voraussetzungen sind dafür notwendig? Ein Gespräch mit der Erfurter Pastoraltheologin Maria Widl.
Frau Professorin Widl, in vielen deutschen Diözesen wurde oder wird strukturell versucht, die kirchliche Situation zu stabilisieren. Doch der alles belebende Geist ist oft wenig zu spüren. Warum ist das so? Was behindert möglicherweise das Wirken des Geistes?
Ich glaube, wir müssen nicht nur bisherige Strukturen, sondern das volkskirchliche Denken, das es auch in den neuen Bundesländer gibt, hinter uns lassen. Kirche gilt es immer wieder neu zu gründen. Das muss das Denken von Christen ausmachen und nicht das Bewahren von überkommenen Lebens- und Ausdrucksformen. Dies entspricht im Übrigen dem Rhythmus des Lebens: Das Lebendige wird geboren, wächst heran, trägt Früchte und stirbt ab. Dementsprechend gilt es auch Dinge, die zu Ende gehen, zu Ende gehen zu lassen, und neue Formen, die entstehen, zu fördern und zu pflegen.
Viele Menschen scheinen wenig von Gott, Glauben und Kirche wissen zu wollen ...
Wir brauchen einen anderen Zugang zur Frage, was das Wesen von Kirche und von Religion ist. Jahrzehnte nach dem Konzil besteht noch immer ein massiver Nachholbedarf, Auffassungen und Empfinden der heutigen Menschen in die Theologie und in die kirchliche Alltagspraxis aufzunehmen. Leben hat immer mit Risiko zu tun. Wenn man sich nicht mit der Kultur auseinandersetzen will, in der man lebt, muss man damit leben, als museal und lebensfremd angesehen zu werden. Deshalb ist es so dringlich, dass sich angesichts der konkreten Kultur immer wieder neue christliche Gruppen - und das sind Gemeinden, das ist Kirche - gründen. Dies gilt es zu fördern.
Ist wirklich nur eine zu geringe Inkulturation das entscheidende Hindernis für mehr Interesse an der Kirche?
Der springende Punkt ist die Gottesfrage, nicht die Kirchenfrage. Deshalb darf nicht im alten volkskirchlichen Verständnis im Mittelpunkt stehen, warum die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen. Die Frage ist: Wie kommen die Leute mit Gott in Berührung? Hier aktiv zu werden, ist eine Form liturgischer Diakonie.
Entscheidend ist: Was macht es für einen Unterschied, ob ein Mensch mit Gott rechnet oder ob nicht? Dies hängt davon ab, ob er glaubt, dass Gott alles geschaffen hat, oder ob er dies nicht glaubt. Wenn alles Leben von Gott geschaffen ist, dann lebt jeder Mensch in einer Gottesbeziehung. Und dann steht die Frage, wie diese Beziehung zwischen Mensch und Gott zu realisieren ist.
In unserer Kultur herrscht aber weithin konstruktivistisches Denken, wonach sich der Mensch seine Welt selbst konstruiert, also zum Beispiel die Gesellschaft mit ihren Spielregeln oder auch sich selbst als Mensch durch entsprechende Bildung. Und der Mensch schafft sich Gott, wenn er ein Bedürfnis dafür hat.
Knackpunkt ist also: Besteht das Leben darin zu entdecken, was Gott uns geschenkt hat, oder im "Willen zur Macht"? Und hier wird deutlich, wie lebensentscheidend eine Theologie ist, die diesen Geschenkcharakter zu vermitteln vermag, zumal wir auch in der Kirche in der Gefahr sind, konstruktivistisch zu denken und alles selbst machen zu wollen.
Was bedeutet dies für die Gemeinden?
In der heute verbreiteten Stadtkultur steht das Individuum im Mittelpunkt und nicht die Gemeinschaft. Was das Individuum beschäftigt, ist in unterschiedlichen Lebensabschnitten unterschiedlich. Das heißt für Kirche und konkrete Gemeinden zum Beispiel, junge Menschen bis 30 Jahre zusammenzuführen, damit sie ihre Berufung für ihr Leben entdecken.
Für Menschen mittleren Alters steht das Thema: Wo kriege ich Kraft her, das Leben zu bewältigen mit allen Brüchen, mit mancher Desillusionierung? Wer hilft mir Verantwortung zu übernehmen, wer gibt mir Orientierung im Umgang mit konkretem Gewordensein, mit verfahrenen Situationen, auch mit Schuld? Wenn in einer Gemeinde das mittlere Lebensalter im Mittelpunkt steht und stehen soll, gilt es, entsprechende Angebote zu machen und Antworten anzubieten.
Menschen im letzten Lebensabschnitt suchen Trost und Versöhnung. Sie haben im Blick, was nicht geworden ist, und müssen sich versöhnen mit ihrem Leben, wie es geworden ist. Und Sie müssen mit dem Altwerden, mit Krankheit und anderem Leid und mit dem eigenen Sterbenmüssen zurechtkommen.
Wie muss bei solchen Angeboten die spezifisch christliche Antwort aussehen?
Menschen, die an den Schöpfergott glauben, gehen mit diesen Fragen anders um als Anhänger des konstruktivistischen Denkens. Haben wir als Gemeinden und als Kirche als Ganze ein Profil, das nach außen deutlich macht: Bei uns haben die nicht so Erfolgreichen eine Chance, weil sie bei Gott eine Chance haben? Wissen in unserer Gesellschaft die Menschen, dass in unserer Kirche Leute mit Fragen Platz haben, Leute mit Brüchen in ihrem Leben willkommen sind? Ich befürchte, dass dies oftmals nicht deutlich wird oder aber gar nicht der Fall ist.
Was kann den Gemeinden helfen, ihr Profil zu schärfen, also christlicher zu leben?
Ein Ansatzpunkt sind die evangelischen Räte. Gott und die Menschen zu lieben gehört zu den Jüngern Jesu, die das Reich Gottes im Blick haben. Wie das im eigenen Leben und dem der konkreten Gemeinde aussieht, können Menschen miteinander entwickeln und leben und so Profil gewinnen und auskunftsfähig sein.
Indem sich Menschen in diesem Sinne zusammenfinden, entsteht lebendige Gemeinde, zumal es doch heute zur Stadtkultur gehört, Freundeskreise zu bilden. Durch Taufe und Firmung ist jeder ermächtigt, mit anderen gemeinsam Christ zu sein. Die bislang weit verbreitete Gemeindestruktur im Sinne der Dorflogik ist hingegen die des Clans, in der wichtige Leute über unwichtigen Leuten stehen und vorgeben, wo es lang geht. Die Qualität und Anziehungskraft einer christlichen Gemeinschaft hängt heute hingegen wesentlich von den Mitgliedern selbst ab.
Aufgabe der Hauptamtlichen muss es sein, dazu zu animieren, neue Gruppen und damit Gemeinden zu gründen, vielleicht auf ein Jahr, im Rahmen eines Projekts, eines Themenschwerpunktes, an dem sich Leute beteiligen möchten. All denjenigen, die im volkskirchlichen Sinne sagen, mich interessiert nichts außer der Teilnahme am Gottesdienst, sollte man mit Hochachtung begegnen, aber nicht alle Kraft in sie investieren.
Gruppen, die spezifische Themen verfolgen, können in die kirchlichen Grundvollzüge hineinwachsen und interessensbildend und gemeinschaftsbildend wirken.
Welche Themen können das zum Beispiel sein?
Menschen fühlen sich vom Taizé-Gebet angesprochen und kommen dazu regelmäßig zusammen. Andere verbindet die Sorge um Kinder, die bestenfalls einen Realschulabschluss schaffen und damit wenig Chancen am Arbeitsmarkt haben, vielleicht auch weil sie sich nicht entsprechend verkaufen können. Auch das Ziel, ein Leben gemäß der Schöpfungslogik zu führen oder auch ohne Auto mobil zu sein, können solche Schwerpunkte sein. Es geht also um Themen, die persönlich und/oder gesellschaftlich relevant sind. Indem sich Gruppen als Gemeinden mit solchen Fragen beschäftigen, bekommen sie ein Profil, das auch außerhalb der Kirche auf Interesse stößt.
Umgekehrt kann ihre Einbindung in die Kirche dadurch gelingen, dass die Pfarrei entsprechende Räume anbietet und die Gruppen immer wieder dazu ermutigt, ihre Anliegen und Antworten als Glaubenszeugnis in den Sonntagsgottesdienst einzubringen und damit das Profil der Gemeinde zu schärfen.
Aber auch so wird man nur wenige Menschen erreichen oder?
Wir müssen uns als Kirche damit anfreunden, dass sich neben einem festen Stamm auch Leute nur punktuell an unseren Angeboten beteiligen. Zum Beispiel werden Kirchen von vielen Menschen als heilige Orte wahrgenommen, wir müssen sie also offenhalten und Angebote machen.
Die wenigen aktiven Christen sollen viele Angebote für die machen, die nur selten in die Kirche kommen …
Kirche wird mit öffentlichen Geldern unterstützt, so dass ein Minimal-Service für jeden drin sein muss. Die Menschen sind heute überall gefordert, für den Erfolg zu arbeiten. Wo Leute investieren, wächst auch etwas. Hier gilt es sich von Perspektiven der dörflich strukturierten Volkskirche zu verabschieden. Erfolgreich ist nur, wer etwas investiert. Der sicherste Weg des Misserfolgs ist zu jammern, was man früher konnte. Wir müssen schauen: Was können wir mit dem Vorhandenen tun? Wer nur bedauert, was er nicht kann, schaut pessimistisch in die Zukunft. Wir aber haben allen Grund zum Optimismus. Und deshalb hat es nie bessere Zeiten gegeben, Christ zu sein, als die heutigen.
Interview: Eckhard Pohl