Für die Opfer und die Forschung
Marianne Birthler leitet die Stasi-Unterlagenbehörde
Berlin. Über 100 Kilometer Akten lagern in der Zentrale und den Außenstellen der Stasi-Unterlagenbehörde. Herrin dieser DDR-Erbschaft ist Marianne Birthler. Auf Einladung der Katholischen Akademie Berlin informierte die Bundesbeauftragte jetzt über die Arbeit ihrer Behörde.
"Die Stasi war der wichtigste Dienstleister der SED - der Partei, die zwar die Macht in der DDR hatte, aber keine Legitimation. Deshalb hatte sie Angst, dass ihr die Macht wieder weggenommen wird. Und um das zu verhindern, gab es - wie in allen Diktaturen - eine Geheimpolizei, die Staatssicherheit." So einfach erklärt Marianne Birthler die Aufgabe der Stasi, die diese seinerzeit selbst mit der Formulierung ",Schild und Schwert der Partei‘ und eben nicht der Verfassung oder der Bürger" umschrieben habe. Wie die Stasi dabei gearbeitet hat, weiß Marianne Birthler genau, denn sie leitet die Stasi-Unterlagenbehörde, die das Erbe des DDR-Geheimdienstes verwaltet und für Betroffene und die Forschung zugänglich macht.Herbst 1989: "Stasi in die Volkswirtschaft"
Während der Friedlichen Revolution 1989 sei die Auflösung der Stasi eine der ersten Forderungen gewesen. "Stasi in die Volkswirtschaft" hieß eine Losung jener Tage. Bereits im Oktober müssen die Stasi-Leute das baldige Ende geahnt haben und begannen mit der Vernichtung von Akten. Zuerst wurden sie geschreddert und - nachdem die entsprechenden Geräte heißgelaufen waren - zerrissen. Verbrannt wurden die Akten nicht, wohl aus Furcht, die Rauchentwicklung könnte Bürgerrechtler darauf aufmerksam machen, was in den Stasi-Dienststellen vor sich ging. Diese erfuhren dennoch davon - und so kam es am 4. Dezember 1989 in Erfurt zur ersten Besetzung einer Stasi-Dienststelle, in diesem Fall durch Frauen. Weitere Besetzungen folgten. Am 15. Januar 1990 schließlich wurde das Ministerium für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße besetzt. "Zu diesem Zeitpunkt war das zwar nicht mehr unbedingt gefährlich, aber dieser Tag zeigte endgültig: Dieser Apparat hat keine Macht mehr", sagt Marianne Birthler. Dass die Übernahme aller Dienststellen durch Bürgerrechtler unblutig verlaufen ist, ist für sie ein Wunder.
Dennoch hatten es Stasi-Mitarbeiter in der Zwischenzeit geschafft, massenweise Akten zu vernichten. Wie viel, das wissen die Mitarbeiter von Marianne Birthler nicht, aber 15 000 Behälter, meist Papiersäcke mit geschredderten und zerrissenen Akten haben sie übernommen. Ein Großteil davon wird sich wiederherstellen lassen. Zusammen mit dem Frauenhofer-Institut sind entsprechende Verfahren entwickelt worden. Was dabei noch zum Vorschein kommt, könnte auch für die Kirchen interessant sein, denn nach bisherigen Erkenntnissen sind aus diesem Bereich besonders viele Akten vernichtet worden.
Warum der Aufwand? Die Stasi ist der erste Geheimdienst der Welt, bei dem die Opfer das Recht haben, mithilfe ihrer Akte ihr Schicksal zu klären und dessen Geschichte umfassend aufzuarbeiten. Übrigens mit dem Ergebnis, dass nach knapp 20 Jahren Arbeit Diktaturenforscher aus aller Welt nach Berlin kommen und von den Forschungsergebnissen profitieren.
Dass die Akten nicht doch "kontrolliert" vernichtet worden (solche Vorschläge gab es 1990) oder 30 Jahre für die Öffentlichkeit unzugänglich im Bundesarchiv gelagert wurden (so sah es ursprünglich der Einigungsvertrag vor) ist wieder den DDR-Bürgerrechtlern zu danken. Sie brachten die letzte DDR-Volkskammer und den ersten gesamtdeutschen Bundestag dazu, entsprechende Gesetze zu verabschieden. Einer der Punkte, die dabei am heftigsten umstritten waren: Die Opfer haben das Recht, die Klarnamen ihrer Stasi-Täter zu erfahren. "Man befürchtete Mord und Totschlag", erinnert sich Marianne Birthler. Heute kann sie sagen: "Uns ist kein einziger Fall von Rache bekannt."
Nur jede zweite IMAnwerbung war erfolgreich
"Im Verhältnis zur Einwohnerzahl in der DDR ist die Stasi der größte Geheimdienst der Welt, von dem wir wissen", sagt Marianne Birthler. Dennoch wird sie nicht müde zu erklären, dass es nur ein kleiner Teil der DDR-Bürger war, der für die Stasi gearbeitet oder gespitzelt hat. Im Sommer 1989 gab es 91 000 Hauptamtliche und 189 000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM), darunter 3000 Bürger der alten Bundesrepublik. Das waren weniger zwei Prozent der Bevölkerung. Birthler: "Auch in der DDR galten ungeschriebene Gesetze, die mit Anstand zu tun hatten. Eines davon hieß: Man verrät seine Mitmenschen nicht." Ein Indiz dafür ist, dass nur etwa jeder zweite Fall einer IM-Anwerbung erfolgreich war.
Vorsicht ist für Marianne Birthler geboten, wenn ehemalige IM heute sagen, sie hätte niemandem geschadet. Die Akten zeigen mitunter, dass auch wohlwollende Informationen der Stasi genutzt haben. Dennoch sei ein differenzierter Umgang mit Stasi-IM notwendig: Der Fall eines Jugendlichen, der nur wenige Monate für die Stasi gespitzelt hat, sei anders zu bewerten als jemand, der bis in der Spätherbst 1989 umfangreiche Informationen geliefert habe.
Die Nachfrage in Sachen Akteneinsicht lässt auch 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution nicht nach: Jährlich werden etwa 80 000 bis 100 000 Anträge gestellt. Insgesamt haben 1,7 Millionen Menschen ein- oder mehrmals nachgefragt. "Etwa bei der Hälfte haben wir etwas gefunden." Und auch wenn nichts gefunden wird, lohnt es sich einige Jahre später einen neuen Antrag zu stellen. Marianne Birthler ist dafür selbst ein Beispiel. Ihre eigene Akte ist möglicherweise vernichtet. Inzwischen ist es aber gelungen, einen Teil davon aus den Akten Dritter zu rekonstruieren.
Mehr Informationen zur Arbeit der Behörde und zur Antragstellung auf Akteneinsicht im Internet: www.bstu.bund.de/
Von Matthias Holluba