Thema: Das Phänomen der Angst
Herausgeforderte Seele
Hallenser Gespräch: Wissenschaftler diskutierten Zunahme von Angsterkrankungen
Halle. Die Zunahme von Angsterkrankungen, Möglichkeiten zu deren Bewältigung, die angstsensible Seite des Christentums, aber auch die scheinbar fehlende und dringend not-wendige Angst vor den Folgen des rücksichtslosen Umgangs mit der Erde waren Themen eines interdisziplinären Symposiums in Halle.
Für den Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer lebt der Mensch des Westens in "einer Gesellschaft, die die menschliche Psyche bis zum Zerreißen anspannt". Schmidbauer befürchtet, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der modernen Welt künftig "noch mehr Ängste produzieren" werden. Das Thema Angst stand im Mittelpunkt des 9. Hallenser Gesprächs zu Psychotherapie, Religion und Naturwissenschaften, bei dem Schmidbauer referierte. Zu dem Symposium hatte am 25./26. Februar wieder die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle und die Katholische Akademie des Bistums Magdeburg eingeladen. 160 Interessierte kamen.
Angsterkrankungen gehören zu den häufi gsten psychischen Erkrankungen. Darauf wies die Gastgeberin und Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Dr. Claudia Bahn, in ihrer Einführung in das Thema hin. 14 Prozent der Bevölkerung leiden Untersuchungen zufolge an "krankheitswertigen Ängsten". Anliegen des Symposiums sei es, "das Phänomen der Angst" aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Angst gehöre zu den Urphänomenen des Menschseins und habe lebenserhaltende Funktion. "In einer Gesellschaft, in der vor allem Erfolg und Risikobereitschaft zählen, ist für Ängste aber wenig Raum", so die Chefärztin. Zugleich beförderten das Streben nach Kontrolle und Perfektion die Angst. Nur wenn es gelinge, die unbewusste Bedeutung Angst auslösender Faktoren zu verstehen und einzuordnen, verliere sie ihre Bedrohlichkeit. Hierbei könnten unterschiedliche therapeutische Angebote helfen.
"Die narzistischen Ängste (aus der Sorge um das eigene Wohl - die Red.) nehmen zu, je komplexer die Gesellschaft wird", betonte Psychotherapeut Schmidbauer. Und sie seien immer schwerer abzustellen. In der Zeit, als die Menschen Jäger und Sammler waren, sei der Jäger aufgewacht, auf die Jagd gegangen und zufrieden gewesen, wenn er ein Tier erlegen und seinen Hunger stillen konnte. "Heute wacht der Mensch auf, hat Angst und sucht Gefahrenquellen in seinem Leben", so Schmidbauer. "Der Mensch fürchtet sich heute viel stärker vor Eventualitäten als vor Realitäten." Dass die Angst zugenommen hat, hänge damit zusammen, "dass es heute viel mehr Eventualitäten gibt".
Die Jäger und Sammler hätten wenig besessen. Sie brauchten sich also nicht vor dem Verlust von Besitzständen zu fürchten, wie es der heutige Mensch tue. Heute bringe aber zum Beispiel auch die Warenkultur Ängste hervor. Das riesige Angebot etwa auf medizinischem Gebiet erzeuge mit der Möglichkeit, sich bei der Auswahl falsch zu entscheiden, Eventualitäten, die zu Angst führen können. Für Schmidbauer stellt "die ganze Individualisierung des Lebens ein gesteigertes Angstrisiko dar". In der modernen Gesellschaft seien der "Fantasie, wie ich mich verbessern kann, kaum mehr Grenzen gesetzt". Besonders Menschen mit geschwächtem Selbstwertgefühl seien gefährdet. Um auf sie einströmende Ängste zu verdrängen, suchten viele Zeitgenossen die beständige Ablenkung.
Schmidbauer sieht angesichts dieser Analyse die eigene Zunft auch politisch gefordert. "Psychotherapeuten sollten öffentlich machen, wo in der Gesellschaft etwas nicht gut ist. Allerdings sollten sie nicht die Welt heilen wollen." Inwiefern Angst bei der Urteilsfi ndung in Strafverfahren eine Rolle spielt, erläuterte Richterin Ursula Mertens aus Halle.
"Ein vermehrtes Aufkommen an Lebensangst" stellt auch Theologin Regina Radlbeck-Ossmann fest. Grund dafür sei nicht zuletzt, dass der "soziale Zusammenhalt deutlich geschwunden" und das Gelingen von Lebensentwürfen heute "wesentlich weniger ablesbar" ist, so die Lehrstuhlinhaberin für Systematische Theologie/Dogmatik am Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Halle. Zudem sei die Gefahr, etwa hinsichtlich berufl icher Lebensziele "total daneben zu greifen, heute viel größer als früher". Die Gesellschaft reagiere aber "verdammt intolerant", wenn jemand Fehler macht.
Von Eckhard Pohl
Angst zulassen und Vertrauen leben
Angstbewältigung durch Psychotherapie und den christlichen Glauben
Halle (ep). Die Chancen der Musiktherapie als einer Therapieform bei der Bewältigung von Angst stellte der Mediziner und Psychotherapeut Helmut Röhrborn vor. Inwiefern dem christlichen Glauben eine angsttherapeutische Dimension innewohnt, erläuterte die Theologin Regina Radlbeck-Ossmann.
Mit Hilfe der Musiktherapie nach Christoph Schwabe können Patienten ihre Selbst-Wahrnehmungsfähigkeit üben und entwickeln. Dabei wird bei Musik "eine innere Haltung der Offenheit ohne jegliche Bewertungen, ohne Erwartungen, Befürchtungen, Leistungsdruck eingeübt", sagt der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin/Psychoanalyse und für Innere Medizin, Helmut Röhrborn, aus Breitenbrunn. Aufgabe des Patienten sei es dabei, seine (einmal gemachten und die aktuellen) Wahrnehmungen zuzulassen und sich ihnen zu überlassen. Sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken, ermögliche es, sich der eigenen Wahrheit zu stellen.
Hingegen rufe das Nichtakzeptieren von Wahrnehmungen und Empfi ndungen unbewusst vielfältige innere Gegenreaktionen hervor, sagt Röhrborn. Diese können sich etwa als Kampf mit, Flucht vor oder endloses Erdulden von etwas äußern. Ständig wachsende Angst und Angst vor der Angst können die Folge sein. Besteht die Gegenmaßnahme etwa in einem ständigen Kampf gegen etwas, sei dies mit einem hohen Kraftaufwand verbunden. Als Folge drohten Erschöpfung und Zusammenbruch.
Wichtig sei, eine offen zulassende Haltung gegenüber Ängsten zu praktizieren. "Sich eigenen Ängsten zuzuwenden, kann sich als lebensfördernd erweisen", so Röhrborn.
Für die Theologin Regina Radlbeck- Ossmann ist der Mensch "unweigerlich mit individueller und kollektiver Unzulänglichkeit konfrontiert" und macht "permanent die Erfahrung von Überforderung". Angst sei die logische Folge. Vor diesem Hintergrund weist die Professorin für Systematische Theologie die These, Religion bringe erst die Angst hervor, entschieden zurück. Zugleich räumt sie aber durchaus ein, dass besonders religiöse Strömungen "apokalyptischer Prägung angstproduktiv gewirkt haben".
"Das Christentum", so die Dogmatikerin, "ist angstsensibel und wendet sich der Angst des Menschen gezielt zu": Nach jüdischchristlichem Glauben ist Gott der Herr der Welt. Er hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen. Er befreit ihn aus dem Sklavenhaus Ägypten. Gott liebt den Menschen. Jesus ist gekommen, die Sünder zu rufen und sie zu ermutigen, an Gott zu glauben und auf ihn zu hoffen.
"Der Mensch soll vertrauen, dass er gehalten wird und - obwohl er aus dem Nichts geschaffen ist und gegenüber Gott gesündigt hat - niemals mehr ins Nichts fällt." Denn Gott selbst hat in Jesus das vom Nichts bedrohte Leben angenommen und selbst extreme Angst durchlebt, so Radlbeck-Ossmann. Dennoch habe er in seiner Angst im Vertrauen auf Gott sein Leben am Kreuz hingegeben und Gott habe ihn aus dem Tod errettet. "Damit ist die Lösung aus der Angst nicht die Freiheit, sondern die Hingabe", so die Theologin.
"Ach, wenn es uns doch gruselte"
Angstverleugnung angesichts von Umweltzerstörung und Rohstoffverknappung
Halle (ep). Um Angstverleugnung ging es im Beitrag des Psychologen Dr. Rainer Gunkel aus Suhl-Goldlauter. "Ach wenn’s uns doch gruselte - Angstverleugnung in Zeiten der Krise oder Das Ende der Welt, wie wir sie kannten" hatte er über sein Referat geschrieben. Gunkel beklagt fehlende Angst angesichts des ökologischen Desasters, in das sich der Mensch immer mehr hineinbegibt. Dem Menschen fehle die Angst, die dazu motivieren könnte, neue Wege einzuschlagen. "Wir müssen auf einen kreativen Abstieg setzen." "Ich fürchte mich nicht vor einer Welt, in der es kein Wirtschaftswachstum gibt." "Wir müssen mehr regionale und örtliche Selbstversorgung erreichen", so sein Credo.
Verknappung von Erdöl und anderen Ressourcen, CO2-Sättigung, Erderwärmung (und atomare Katastrophen - Red.) lassen "das Konzept der großtechnischen Optimierung der globalen Bedürfnisbefriedigung der Gattung Mensch in die Sackgasse" geraten. Dennoch lüge sich der Mensch etwa mit angeblich klimaschonender Atomkraft und Müllverbrennungsanlagen selbst in die Tasche. Auch "das postfossile, angeblich nachhaltige Wirtschaftswachstum des 21. Jahrhunderts" mit seinem Glauben an die Heliotechnik sei Selbstbetrug. Denn der Sonnenenergie- Techniker "tut so, als ob es genug Rohstoffe für Elektro-Autos oder Solar-Dächer gibt". Und "er verleugnet, dass der absolute CO2 - Ausstoß vom Wirtschaftswachstum und nicht vom Verbrauch fossiler Rohstoffe abhängt."
Von daher gehe es "grundsätzlich um ein Weniger, um ein Genügen". "Du musst dein Leben ändern!", verlangt der ökologische Psychotherapeut, der eine "Bindungsstörung des Menschen im Bezug auf Mutter Erde" konstatiert und diese zum "Gegenstand der Seelenkunde" erklärt. Alle Bereiche der Psychologie und Psychotherapie müssten "ihren Gegenstand über die Individualpsyche und die Sozialbeziehungen hinaus auf die belebte und unbelebte Natur erweitern".