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Umdenken

Gastbeitrag


Benno PickelMeine Tochter ist eine von den Schülerinnen mit schlechten Noten. Abends sitzen wir - nach sechs bis sieben Stunden Unterricht - und üben für den nächsten Tag. Vor Klassenarbeiten versuche ich ihr Selbstvertrauen zu stärken. Wenn sie dann wieder mit einer Fünf nach Hause kommt, sagt sie: "Papa, unterschreibst du es mir. Ich will’s keinem anderen zeigen." Die Lehrer sagen: In der vierten Klasse wird sich die Spreu vom Weizen trennen. Jetzt wird sich zeigen, wer aufs Gymnasium gehen kann. Oft hat meine Tochter zu hören bekommen: Es genügt nicht, wenn du die Aufgaben lösen kannst. Du musst schneller werden. Vor Kurzem sagte sie: "Papa, in der Schule lachen die Kinder, wenn ich mich nicht so richtig ausdrücken kann. Dann melde ich mich lieber gar nicht."

Eine andere Situation: meine Arbeit mit behinderten Menschen. In der Fachwelt werden immer neue Begriffe erfunden: Erst Normalisierungsprinzip, dann Integration, jetzt Inklusion, … und nächstes Jahr? Normalisierungsprinzip meint, dass Menschen mit einer Behinderung so normal wie andere leben sollen. Dabei geht man davon aus, dass behinderte Menschen nur gezwungenermaßen in Wohnheimen leben müssten. Wir bieten zurzeit 40 Personen Unterstützung im betreuten Wohnen an. Einmal pro Woche kommt jemand, schaut nach der Post, teilt Taschengeld zu, steht kurz für Probleme zur Verfügung. Ein junger Mann, der aus dem Wohnheim ins betreute Wohnen gezogen ist, wurde zusehends missmutiger. Er hatte Kumpel kennengelernt, die gern mit ihm auf seine Kosten eine Flasche Bier tranken. Ein Pärchen, das in eine eigene Wohnung zog, wurde anfangs intensiv begleitet. Als aus Kostengründen die Betreuung reduziert werden musste, waren die beiden schnell mit der Miet-und Stromzahlung im Rückstand.

Der Begriff Integration meint, dass jemand hinein geholt werden soll in die Gesellschaft. Wer so denkt, setzt voraus, dass der behinderte Mensch außerhalb steht. In einer Werkstatt, in der behinderte Menschen die gleichen Arbeiten ausführen wie andere, stehen sie nicht draußen. Diese Werkstatt ist genauso Teil unserer Gesellschaft wie jeder Handwerksbetrieb.

Einige meinen, die Wohnheime seien eine überholte Form der Behindertenhilfe. "Ambulant vor stationär" heißt das Zauberwort. Aber auch Wohnheime sind keine Ghettos außerhalb der Gesellschaft. Sie sind Wohnformen, die einem speziellen Hilfebedarf gerecht werden. Was ist anders als in der eigenen Wohnung? Ich lebe in einer Gemeinschaft, unter Menschen, die jeden mit seiner Behinderung akzeptieren. Niemand wird gehänselt. Keiner wird allein gelassen. Nicht nur einmal pro Woche schaut jemand nach dem Rechten. Ständig sind Ansprechpartner da. Das schafft Sicherheit und Vertrauen. Wer hier seinen Platz gefunden hat, muss nicht anderswo integriert werden. Er hat jederzeit die Möglichkeit, in die Stadt zu gehen oder an Veranstaltungen teilzunehmen. Häufig sitzen behinderte Menschen im Kaffee in der Fußgängerzone oder im Dönerladen, kaufen im Supermarkt ein oder fahren zu Besuch zu ihren Eltern. Und immer wieder kommen sie nach Hause, ins Wohnheim, zurück. Beim Faschingsumzug gestalten sie einen eigenen Wagen, einige sind Mitglied im Fußballverein, die Heiligenstädter Stadtprozession mündet alljährlich in das Familienfest des Wohnheims mit tausenden Besuchern.

Aber: Integration, Teilhabe an der Gesellschaft ist immer noch das große Thema der Behindertenhilfe. In welche Gesellschaft sollen wir integrieren? Manch einer aus der Gesellschaft würde gern in unsere Gemeinschaft kommen. In eine Gemeinschaft, in der nicht unterschieden wird zwischen Menschen mit sichtbaren Einschränkungen und solchen mit nicht so auffälligen Defiziten. Nicht sofort sichtbare Behinderungen sind meist emotionaler Natur. Wir müssen immer den starken Mann markieren, nichts darf uns aus der Bahn werfen. Wenn wir uns über etwas freuen, dann aber in Maßen. Bei geistig behinderten Menschen ist das anders: Wenn sich einer freut, dann richtig, lautstark! Ich stelle mir manchmal die Frage: Welche Behinderung ist größer? Ist es die Spastik, das Down-Syndrom? Oder sind es die vielen emotionalen Behinderungen, die wir durch unsere Sozialisation erfahren haben? Geistig behinderte Menschen wägen nicht ab, was sie wem sagen dürfen. Sie schämen sich selten, vor einer Menschenmenge zu sprechen oder zu singen. Sie nehmen das, was einer sagt, für bare Münze. Sie fassen schnell Vertrauen und setzen das Gute im Menschen voraus. Wer ist behindert? Wer nicht?

Ich wäre dafür, künftig weniger über Integration zu diskutieren. Lassen Sie uns über Werte in unserer Gesellschaft sprechen. Wie kann es gelingen, dass an die Stelle von Neid die Freude darüber tritt, dass es einem anderen gut geht? Wie können wir einander mit Offenheit und Vertrauen begegnen, ohne Gefahr zu laufen, ausgenutzt zu werden? Wie schaffen wir es, dass die charakterliche Entwicklung unserer Kinder, die Herzensbildung, wieder mehr zählt, als ihre Leistung? Wenn solche Werte das Leben in unserer Gesellschaft bestimmen, dann möchte auch ich gern an dieser Gesellschaft teilhaben.

Benno Pickel, Geschäftsführer Eichfelder Werkstätten Heiligenstadt

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