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Anstoß

Der Blinde und der Lahme

Schwester Susanne Schneider

Bei den letzten "Exerzitien im Alltag" in Leipzig staunte ich bei jedem Treffen, wie unterschiedlich, anders und einmalig die Erfahrungen sind, die die Menschen bei einem solchen Prozess machen. Alle hatten das gleiche Material erhalten, die vier Begleitabende für alle waren gleich und in den Kleingruppen stellten wir die gleichen Fragen. Dennoch waren die Ergebnisse so unterschiedlich, wie sie nicht unterschiedlicher hätten sein können:

Manche fanden die Fotos kindisch und die Kunstbilder gut, andere fanden die Fotos aussagekräftig und offen und die Kunstbilder in die Enge führend, bindend und beinahe gewalttätig. Manche fanden die Bibelstellen klug ausgewählt, für andere waren die Bibelstellen zu lang oder zu kurz oder unpassend. Für manche war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, sich täglich eine halbe Stunde Zeit zu nehmen, für die anderen war diese Frage nicht der Rede wert.

So war es überraschend, dass trotzdem von fast allen der gemeinsame Austausch gelobt wurde. Auch wir als Team erlebten die Austauschrunden als hilfreich, sinnvoll und bereichernd: "Ja, es ist gut, von den anderen zu hören," - selbst wenn die anderen ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Offensichtlich gibt es doch einen gemeinsamen Nenner.

Der gemeinsame Nenner, den wir fanden, ist das Suchen nach Gottes Spur im Leben der Einzelnen und die Sehnsucht, deutlicher als bisher die "Handschrift Gottes" wahrzunehmen. Diese Spur Gottes sieht nun sehr unterschiedlich aus: Nicht jeder Ratschlag ist für alle gut. Und es gibt Hinweise, die sind für manche äußerst hilfreich und für andere Menschen fast schädlich.

In dieser Situation kam mir eine Geschichte in den Sinn, die es in verschiedenen Variationen gibt und die von Christian Fürchtegott Gellert (1715 -1769) in Versform gebracht wurde: Ein Blinder und ein Lahmer wurden von einem Waldbrand überrascht. Die beiden beginnen ein Gespräch miteinander und klagen sich gegenseitig ihr Schicksal. "Ich irre schon, seit ich denken kann, in diesem Wald herum und finde nicht wieder heraus, weil ich nicht sehen kann", ruft der Blinde aus. Der Lahme sagt: "Ich liege schon, seit ich denken kann, am Boden und komme nicht aus dem Wald heraus, weil ich nicht aufstehen kann."

Und während sie sich so unterhalten und das Feuer immer näher kommt, ruft der Lahme plötzlich aus: "Ich hab’s! Du nimmst mich auf den Rücken, und ich werde dir sagen, in welche Richtung du gehen musst. Zusammen können wir aus dem Wald herausfinden." Und gemeinsam gelangen beide wohlbehalten aus dem Wald hinaus.

Schwester Susanne Schneider, Missionarinnen Christi, Kontaktstelle Orientierung, Leipzig

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