Sand im Getriebe der NVA
Tagung widmet sich einem vernachlässigten Thema der DDR-Geschichte: den Bausoldaten in Prora
Binz. Die Bausoldaten sind ein Kapitel DDR-Geschichte, das noch ungenügend aufgearbeitet ist. Besonders in Prora, wo zeitweise die größte Baueinheit stationiert war, gab es Auseinandersetzungen, wie mit der Erinnerung an die Waffenverweigerer umgegangen werden soll.
Andreas Ilse, Hendrik Liersch und Stephan Schack haben etwas gemeinsam: Die drei waren in den 1980er Jahren Bausoldaten - nicht irgendwo, sondern in Prora. Hier - im Block V des von den Nazis errichten Gebäudekomplexes für ein Seebad Prora - war zwischen 1982 und 1989 zeitweise die größte Einheit der DDR-Waffenverweigerer mit bis zu 500 Bausoldaten stationiert. Eingesetzt waren sie beim Bau des Fährhafens Mukran. Das war das größte Verkehrsbauvorhaben der DDR zu jener Zeit. Hauptgrund für den Hafenbau war der Wunsch der Sowjetunion, aufgrund der unsicheren Lage in Polen einen direkten Zugang zur DDR und den dort stationierten Truppen zu bekommen.
Viele Erinnerungen an die Zeit in Prora
Ilse, Liersch und Schack haben viele Erinnerungen an ihre Zeit in Prora. Es sind schmerzliche Erinnerungen an Schikanen und Ungerechtigkeiten, denen sie als Bausoldaten ausgesetzt waren, an teils unmenschliche Arbeitsbedingungen während der Zwölf-Stunden- Schichten oder auch - wie im Fall von Hendrik Liersch- an einen Bausoldaten- Freund, der den Druck nicht aushielt und sich das Leben nahm. In Erinnerung geblieben ist aber auch manche Aktion, mit der die Bausoldaten ihren Vorgesetzten und dem DDR-Staat das Leben schwer machten, und der Zusammenhalt unter den Bausoldaten.
Ilse, Liersch und Schack waren drei Zeitzeugen, die in Binz an einer Tagung zur Geschichte der Bausoldaten teilnahmen. Von ehemaligen Proraer Bausoldaten war in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert worden, dass an dieses Kapitel der DDR-Geschichte kaum erinnert wurde. Im Focus in Prora stand der von den Nazis errichtete Gebäudekomplex, in dem 20 000 Menschen gleichzeitig Urlaub machen sollten, der aber wegen des Kriegsbeginns nicht fertiggestellt worden war. Zu DDR-Zeiten dienten Teile dieses Komplexes dann als Kaserne, unter anderem für die Baueinheiten. Lediglich an der Turnhalle, in der die Bausoldaten seinerzeit ihr Gelöbnis ablegen mussten, erinnert eine kleine Tafel daran.
Eine Lücke in der DDR-Geschichtsschreibung
"Die Tagung soll helfen, eine Lücke in der DDR-Geschichtsschreibung der letzten 20 Jahre zu schließen", sagt Jochen Schmidt, der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) Mecklenburg-Vorpommern. Ob es sich bei dieser Lücke lediglich um einen "blinden Fleck" oder um "bewusstes Verdrängen" gehandelt habe, ließ er offen. Dankbar sei er jedenfalls, dass die ehemaligen Bausoldaten diese Auseinandersetzung immer wieder eingefordert haben.
Landrätin Kerstin Kassner (Die Linke) gesteht: "Wir haben uns nach der Wende mit der Situation in Prora sehr schwergetan" und weist in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten im Umgang mit dem denkmalgeschützten viereinhalb Kilometer langen Gebäudekomplex hin. "Wenn jetzt im Juli im Block V, der ehemaligen Bausoldaten-Kaserne, eine Jugendherberge eröffnet wird, dann werden die Jugendlichen auch die Möglichkeit haben, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen."
In die Hand genommen hat das vor allem der Verein Prora-Zentrum mit Bildungsangeboten, einer Ausstellung und dem Erhalt von Zeugnissen aus jener Zeit. Warum ist diese Erinnerung wichtig? "Es gibt einen großen Gegenwartsbezug", sagt Susanna Misgajski von Prora-Zentrum und nennt die Friedensfrage, soziales Engagement und Demokratieerziehung als Stichworte. Bei DDR-Projekttagen am Gymnasium in Bergen hat sie mit ihren Angeboten zum Thema "Bausoldaten" schon gute Erfahrungen gesammelt.
"Geschichte kommt an die Schüler heran über die Geschichte, die vor Ort ist", sagt Jana Romanski, die an diesem Gymnasium als Geschichtslehrerin arbeitet. "Wir brauchen Demokraten. Wie aber sollen wir welche erziehen, wenn wir sie nicht mit solchen Beispielen wie den Bausoldaten konfrontieren?" Wohin Nicht-Demokratie führe, könne man am Beispiel der Bausoldaten deutlich zeigen. Sie selbst habe sich bei diesem Thema auch mit ihrer eigenen Vergangenheit in der DDR auseinandersetzen müssen, gesteht Jana Romanski. Sie sei als Tochter eines NVA-Offiziers auf die Insel Rügen gekommen. Auch Landrätin Kassner wies auf ihre Biografie als Offizierstochter hin. "Heute habe ich große Hochachtung vor Ihrer Haltung und vor Ihrem Mut", sagte sie den ehemaligen Bausoldaten.
Mut zeigten die Bausoldaten nicht nur mit ihrer Entscheidung für die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe, sondern auch während ihrer Dienstzeit etwa mit Eingaben und Beschwerden über Missstände. Das machte sie zum "Sand im Getriebe der NVA", sagt Thomas Widera von Hannah-Aendt-Institut Dresden. "Die Eingaben der Bausoldaten zwangen die obersten Vertreter von Staat und Partei, sich mit aus ihrer Sicht belanglosen Dingen zu beschäftigen."
Bausoldaten nahmen DDR-Wahlgesetz ernst
Die Aktivitäten der Bausoldaten konnten aber die DDR-Mächtigen durchaus auch in ernste Schwierigkeiten bringen. Ein Beispiel dafür sind die Kommunalwahlen 1984. Die Proraer Bausoldaten nahmen damals das DDR-Wahlgesetz ernst und forderten ihre Rechte ein. Die Kandidaten mussten sich im Gespräch mit ihnen vorstellen, ein Bausoldat wurde in den Wahlvorstand entsandt und an der Auszählung nahmen ebenfalls Bausoldaten teil. Als dann in den veröffentlichten Ergebnissen für den Kreis Rügen die Zahl der Nein-Stimmen deutlich kleiner war als die Zahl der Nein-Stimmen, die allein die Proraer Bausoldaten ausgezählt hatten, forderten sie dafür eine Erklärung. Hektisch suchten die Verantwortlichen danach und argumentierten schließlich, dass die Wahlstimmen von NVA-Angehörgen aus Geheimhaltungsgründen nach einem geheimen Schlüssel auf die Wahlkreise der ganzen DDR aufgeteilt würden.
Stephan Schack, der diese Zeit in Prora miterlebt hat, sieht hier einen Beleg für die Verbindung zwischen den Bausoldaten und der Opposition in der DDR. "Die Aufdeckung der Wahlfälschung bei der Kommunalwahlen 1989 hat hier einen Vorläufer", sagt er. Wenn es heute um Demokratieerziehung am Beispiel der Bausoldaten gehe, heiße eine Frage für ihn dabei auch: "Wo ist heute Widerstand gefordert?"
Im Internet gibt es ein virtuelles Museum der Proraer Bausoldaten: www.proraer-bausoldaten.de
Von Matthias Holluba
Hintergrund
Bausoldaten in der DDR
Seit 1962 gab es in er DDR die Wehrpflicht. Etwa 1500 junge Männer weigerten sich in den ersten zwei Jahren, der Einberufung Folge zu leisten. Die Machthaber entschlossen sich deshalb, für diejenigen, die den Dienst mit der Waffe aus Glaubens- und Gewissensgründen ablehnten, eine Alternative zu schaffen. 1964 wurde der waffenlose Wehrdienst als Bausoldat eingeführt. Bis zur Ermöglichung des Zivildienstes in der DDR unter der Modrow-Regierung im März 1990 haben davon etwa 15 000 Männer Gebrauch gemacht.
"Die Bausoldaten waren vollständig in die militärischen Strukturen eingebunden", erklärt Thomas Widera vom Hannah-Arendt-Institut Dresden. Sie trugen Uniform und ihr Schulterstück zeigte einen kleinen Spaten. "Kritik gab es von Anfang an vor allem am Gelöbnis, das die Bausoldaten statt des Fahneneides ablegen mussten, und daran, dass sie zum Bau militärischer Anlagen herangezogen wurden." Die Forderung nach einem "Sozialen Friedensdienst" wurde deshalb immer wieder laut.
Die Bedingungen, unter denen die Bausoldaten ihren Wehrdienst leisten mussten, unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen anderer Wehrpflichtiger. Ein Unterschied bestand allerdings im grundsätzlich solidarischen Miteinander. So gab es beispielsweise keine EK-Bewegung (EK = Entlassungskandidat, Soldat im letzten Diensthalbjahr), mit der sich die Soldaten untereinander drangsalierten.
Den Bausoldaten in Prora kommt in den 1980er Jahren eine besondere Bedeutung zu, weil ihre Aktionen aufgrund der großen Zahl von Bausoldaten oft wirkungsvoller waren als in kleineren Baueinheiten. So kam es - aufgrund zahlreicher Beschwerden - in Prora auch einmal zu einem Gespräch zwischen dem DDR-Verteidigungsminister und Bausoldaten.
"Zwar sind die Bausoldaten in der militärischen Geschichtsschreibung nur eine Fußnote", sagt Stephan Wolf von der Stasi- Unterlagenbehörde in Berlin mit Blick auf die Statistik. "Doch sie sind ein wichtiges Beispiel für Zivilcourage in der DDR." Immer wieder - so belegen es die Akten - biss sich die Stasi an dieser "Vollversammlung der Regimekritiker" die Zähne aus. (mh)