Anstoß
Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten
Es erinnert schon sehr an das gängige Bild vom düsteren Mittelalter, an Inquisition, Pranger und brachiale Körperstrafen, was momentan in den Medien zu beobachten ist: Dominique Strauss- Kahn, der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, wird in Handschellen, schwer bewacht von Polizisten, unrasiert der medialen Meute zum Fraß vorgeworfen. Ein Verfahren, das die Franzosen als mediale Hinrichtung mit Hilfe grausamer und brutaler Bilder bezeichnen, die US-Amerikaner aber als ihr verbürgtes Recht ansehen, da die Pressefreiheit und das allgemeine Aufklärungs- und Informationsinteresse in den Vereinigten Staaten höher gewichtet werden, als der Persönlichkeitsschutz.
Es mag schon sein, dass dieser sogenannte "Perp Walk" ("perp" leitet sich von "perpetrator", also Straftäter ab) mittelalterlich anmutet. Damit tut man dem Mittelalter allerdings Unrecht, da es ein französischer Kardinal, Jean Le Moine war, der an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert in der Erläuterung eines päpstlichen Textes als erster die Regel der Unschuldsvermutung äusserte. Er wollte begründen - so wusste die Süddeutsche Zeitung zu berichten - dass nicht einmal der Papst sich über die Grundrechte von Beschuldigten hinwegsetzen dürfe. Dafür berief sich der Kardinal auf die höchstmögliche Instanz: Selbst Gott habe Adam und Eva die Gelegenheit gegeben, sich gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, sie haben von den Früchten des verbotenen Baumes gegessen. Adam: "Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben und so habe ich gegessen." Und Eva: "Die Schlange hat mich verführt und so habe ich gegessen." Erst danach fällt Gott sein Urteil. Bis dahin, so Le Moine, habe Gott den beiden Unschuld unterstellt. Wenn selbst Gott an diese Maxime gebunden ist, so folgert der Kardinal, dann erst recht alle menschlichen Richter.
Das Problem scheinen im besagten Fall aber weniger die Richter als vielmehr die Öffentlichkeit zu sein. Dafür ist der Blick über den großen Teich gar nicht nötig, denn auch hiesige Gerichtsverfahren werden von den Medien weidlich ausgeschlachtet. Das funktioniert aber nur, so lange es eben eine Öffentlichkeit gibt, die an diesen Bildern interessiert ist, die an den medialen Hinrichtungen teilnehmen möchte, der man beinahe nichts Schlimmeres antun könnte, als die Unschuld des vermeintlichen Täters nachzuweisen und so dem Pranger ein Ende zu bereiten.
Diese Öffentlichkeit, das sind wir. Und vermutlich hatte der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg Recht, als er, darüber grübelnd, ob der "Perp Walk" nicht auch Unschuldige treffen könne, sagte: "Dann muss die Gesellschaft sich wirklich den Spiegel vorhalten."
Pater Bernhard Kohl, Dominikanerkonvent St. Albert in Leipzig-Wahren