Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!

Lebenswege ins Ungewisse

Görlitz: Sonderausstellung über Migration in Görlitz-Zgorzelec von 1933 bis heute

Görlitz. Das Kommen und Gehen der Menschen, meist erzwungen, manchmal freiwillig, bestimmt das Leben in der deutsch-polnischen Doppelstadt Görlitz seit fast 80 Jahren. Eine Sonderausstellung im Schlesischen Museum widmet sich diesem Phänomen.

Auf verschiedenen Bildschirmen kommen Zeitzeugen oder deren Nachfahren zu Wort, die von Lebenswegen ins Ungewisse berichten. Zudem werden historische Aufnahmen gezeigt.

Wolfgang Rösler wuchs, 1933 geboren, im Ostteil von Görlitz auf. Die Familie flüchtete im Februar 1945 vor der herannahenden Front, kehrte nach Kriegsende zurück und wurde im Juni 1945 über die Neiße in den Westteil der Stadt vertrieben. Nach einer Feinmechaniker- Ausbildung war Rösler 40 Jahre im Feinoptischen Werk in Görlitz beschäftigt und arbeitete hier mit Frauen aus Zgorzelec zusammen.

Von alledem erzählt Rösler in einem Film. Dieser ist zusammen mit weiteren Filmsequenzen derzeit in der Sonderausstellung "Lebenswege ins Ungewisse - Migration in Görlitz/Zgorzelec von 1933 bis heute" in Görlitz zu sehen. In der Ausstellung im Schlesischen Museum begegnet der Besucher insgesamt zehn Lebensgeschichten. Die filmische Inszenierung, aber auch historische Aufnahmen, Erinnerungsstücke, Dokumentationen und weitere Exponate wie zwei sogenannte Stolpersteine (sie werden künftig in der Stadt an die 1944 ermordeten jüdischen Mitbürger Carl und Hans Jacobsohn erinnern) lassen ein lebendiges Bild von Görlitz und Zgorzelec und ihren Bewohnern entstehen.

Migranten berichten über ihre Lebensgeschichte

Neben Wolfgang Rösler kommt auch Michael Guggenheimer zu Wort: Die Familie seiner Mutter stammte aus Görlitz. 1933 flüchtete sie nach Palästina. Guggenheimer selbst wurde 1946 in Tel Aviv geboren. Heute lebt er als Schriftsteller in Zürich und hat sich mit seinem Buch "Görlitz. Schicht um Schicht" (2004) der Geburtsstadt seiner Mutter angenähert. Oder Irena Serafin: Sie wurde 1925 im ostpolnischen Baranowicze (heute Weißrussland) geboren. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Polin zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. 1946 kam sie in den polnischen Teil von Görlitz, wo sie als Sekretärin und Buchhalterin arbeitete.

"1945 wurde die Neiße zur Scheidelinie, die Görlitz in einen deutschen und einen polnischen Teil spaltete", sagt Ausstellungskuratorin Martina Pietsch. "Für unser Museum ist diese Zäsur der Stadtgeschichte ein wichtiges Thema. Wir möchten die Lebenswege der Menschen auf beiden Seiten der Neiße erkunden und ihre Erzählungen zusammenführen."

Ein wesentlicher Impuls für das Ausstellungsprojekt sei vom Vorhaben der 3. Sächsischen Landesausstellung "Via Regia - 800 Jahre Bewegung und Begegnung" ausgegangen, die derzeit in der Neißestadt gezeigt wird. "Das zentrale Motiv der Landesschau, die Mobilität der Menschen über Jahrhunderte hinweg, wird von uns aufgegriffen und für die Lebenszeit von drei Generationen in Görlitz-Zgorzelec betrachtet", so Frau Pietsch.

Die Heimat verlassen (müssen) und neu beginnen

So sind in Zusammenarbeit mit dem Muzeum Luzyckie (Lausitz- Museum) in Zgorzelec eine multimediale kleine Ausstellung und ein Begleit-Erzählband entstanden. Herzstück sind biografische Erzählungen von Menschen, deren Leben mit Görlitz und Zgorzelec zwischen 1933 und 2011 verknüpft war und ist. Insgesamt wurden 50 Interviews geführt und mehrere Erinnerungsberichte ausgewertet.

An den Biografien wird deutlich: Flucht, Vertreibung und notwendiger Neuanfang prägten nicht nur das Schicksal der Menschen in den Nachkriegsjahren. Verfolgung, Vertreibung und Internierung politischer Gegner und der jüdischen Bevölkerung fanden bereits in der Zeit des Nationalsozialismus statt. Während des Weltkrieges kamen Gefangene und Zwangsarbeiter nach Görlitz. Nach dem Krieg wurde die Stadt durch die neue Grenze zerschnitten, die Deutschen mussten ihre Häuser im Ostteil verlassen. Und es entstand Zgorzelec mit einer neu angesiedelten polnischen, aber auch griechisch-mazedonischen Bevölkerung. (Die Volksrepublik Polen nahm wie andere sozialistische Länder Migranten aus Griechenland auf, die während des dortigen Bürgerkrieges 1946-49 auf Seiten der kommunistischen Partisanen gestanden hatten. Etwa 9000 von ihnen kamen in den damals erst dünn besiedelten Ostteil von Görlitz.) Zwei noch heute in Zgorzelec lebende Nachfahren - die meisten Griechen gingen in den 1970/80er Jahren in ihre Heimat zurück - kommen in Ausstellung und Begleitband zu Wort.

In den westlichen Stadtteilen von Görlitz suchten Tausende deutsche Vertriebene Zuflucht. Die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft trieb viele Menschen in die Bundesrepublik. Andere fanden in neuen Betrieben eine Lebensperspektive. Seit der Wende 1989/90 ist die Entwicklung von Görlitz und Zgorzelec erneut durch starke Bevölkerungsbewegungen geprägt.

"Die Heimatstadt zu verlassen und an einem anderen Ort neu zu beginnen - dies ist eine Erfahrung, die in vielen Familien in Görlitz und Zgorzelec bis heute eine große Rolle spielt", sagt Kuratorin Pietsch. Die Ausstellung mache dies deutlich. Und mit ihrer Erarbeitung sei ein Netzwerk von Menschen entstanden, die mit ihren sehr unterschiedlichen Biografien dennoch ein vergleichbares Schicksal teilen.

Hinweis

Die Ausstellung im Schlesischen Museum in Görlitz, Schöhof, Brüderstraße 8, ist bis 25. März 2012 zu sehen. Tel. 0 35 81/ 8 79 10; Internet: Die hier einst verlinkte Webseite ist leider nicht mehr online (Stand: 07/2017)

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps