Erwachsenes Christsein
Gotthard Fuchs über Mystik als Glaube, der sich vorbehaltlos der Realität aussetzt
"Welche Religion stellt sich der Realität des Lebens besonders intensiv?" Referent Gotthard Fuchs gibt am 8. Januar in Magdeburg und einen Abend später in Halle auch den nicht Getauften unter den Zuhörern eine unmissverständliche Antwort: Echtes Christentum nimmt die Verhältnisse wie sie sind in den Blick. "Christsein heißt, hinzuschauen, was Menschen einander antun und woran Menschen leiden", so der Priester und Leiter des Referates Kultur-Kirche-Wissenschaft im Bistum Limburg. Wer auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus schaut, kann dazu fähig und so zum Mystiker werden. Das allerdings sei mit einem "Erwachsenwerden im Christsein" verbunden. "Mystik ist Überwältigt-Werden von Gott, der liebt und Mitliebende sucht." Deshalb leidet der Mystiker mit, wenn Menschen in schlimmen Verhältnissen leben und sucht diese zu verändern. "Mystik ist also nichts Elitäres, Ausgeflipptes. Mystik ist das Ergriffensein von einer größeren Wirklichkeit, für die man alles einsetzt", betont Fuchs, und zitiert Friedrich Nietzsche: "Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht Mystik."
So wundert es nicht, wenn der frühere Leiter der Rabanus-Maurus- Akademie in Wiesbaden/ Frankfurt zu Beginn seines Vortrages über "Mitteldeutschland als Quellort mittelalterlicher Mystik" an den Herbst 1989 erinnert und allen dankt, die die friedlichen Veränderungen in der DDR herbeigeführt haben. Denn auch sie, die - manchmal zwar verzweifelt - sich nicht mit den DDR-Unrechtsverhältnissen abfanden, größer vom Menschen dachten als die DDR-Ideologen und schließlich Veränderungen in Angriff nahmen, auch sie erfüllen für Fuchs die Kriterien, Mystiker zu sein.
Dass Mystisches heute wieder Konjunktur habe, so der Referent, hänge damit zusammen, dass sich Menschen zugleich in "Sehnsucht und Verzweiflung" vorfinden und "Armut und Reichtum immer schärfer aufeinanderprallen". "Es ist auch bei uns in Deutschland schlimm genug", sagt Fuchs im Laufe des Abends auf die Frage, ob es den Menschen schlechter gehen müsse, damit sie sich auf das Wesentliche besinnen.
Fuchs belegt seine Thesen zur Mystik am Beispiel von drei Frauen aus Mitteldeutschland: Mechthild von Magdeburg, Margareta, die Verkrüppelte, von Magdeburg und Gertrud von Helfta. Um sie zu verstehen, müsse man die Verhältnisse des 12./13. Jahrhundert als "gärender Umbruchszeit" kennen: Jacob von Vitry (1160/70-1240) etwa berichte von Habgier, die alle Stände erfasst hat: Gerechtigkeit liegt danieder, Liebe und Verlässlichkeit sind abhanden gekommen, Mönche brechen ihre Gelübde. Man verleiht gegen Zinsen. Selbst im theologischen Sprachgebrauch hält der "Zins der Erlösung" oder die Rede vom "Gnadenschatz" Einzug …
Es ist eine Zeit, in der Gefühl und Innerlichkeit in den Blick kommen. Bei der Partnerwahl spielt zunehmend die Liebe, die Minne eine Rolle. Die einzelne Person wird wichtiger. "Es gibt einen Heißhunger nach authentischer Spiritualität und Christlichkeit. Zugleich herrscht Enttäuschung über das kirchliche und staatliche Establishment." Große Dome wie in Magdeburg werden errichtet. Andererseits herrscht gerade in den aufstrebenden Städten unvorstellbare Armut.
Wache Christen der Zeit, so Fuchs, nehmen die schreiende Ungerechtigkeit nicht hin. Vom Evangelium her ist für sie die "Armut das Schlüsselwort für Christen". So wundert es nicht, dass sich etwa Franziskaner und Dominikaner in wenigen Jahre in ganz Europa ausbreiten. Zur gleichen Zeit entsteht die Beginenbewegung, der Mechthild von Magdeburg angehört. Die geistliche Antwort dieser Bewegungen auf Gewinnsucht, Ungerechtigkeit und Verkommenheit heißt: "Nackt dem nackten Christus nachfolgen."
Mechthild von Magdeburg (1208-1282/94) versucht eine solche Antwort. "Ich nahm die verdorbene Christenheit in meinen Arm", schreibt sie. Fuchs: "Es gibt keine Mystik ohne Widerstand und Reforma- tion." Und: "Wer es mit Gott zu tun bekommt, bekommt es mit den Verhältnissen zu tun. Er beginnt, am Leiden Christi und am Leiden der Menschen mitzuleiden und setzt sich intensiv für die Veränderung der Verhältnisse ein."
Angesichts des Elends in der Welt macht Mechthild auch "die Erfahrung der Gottlosigkeit im Glauben", so Fuchs. "Nach Zeiten seligster Vereinigung entschwindet ihr Gott. Am Ende spürt sie nur noch die Fremde Gottes." Mechthild: "Jetzt, in dieser Dunkelheit, vollzieht sich die Herrlichkeit Gottes, weil mir seine Fremde lieber ist als seine Nähe." Auch einer Frau wie Margareta von Magdeburg, wegen ihrer Behinderungen die Verkrüppelte genannt (1225/35-1260/1270), erwächst aus dem leidenschaftlichen Glauben an Gottes Liebe Selbst- und Sendungsbewusstsein, wenn sie etwa berichtet, Christus habe zu ihr gesagt: "Es hat neben mir niemand soviel für die Welt gesühnt wie du." Sie entwickelt "eine Mystik des Leidens, sich radikal dem auszuliefern, was trostlos macht", so Fuchs. Auch wenn dabei immer die Frage nach pathogenen Zügen mitzubedenken sei, so der Referent, ist bei einer von Krankheit geplagten Frau wie ihr "das Leid nichts masochistisch Gesuchtes, sondern die Annahme der Realität und deren Wandlung in der Nachfolge Christi".
Am Beispiel Gertruds von Helfta (1256-1302/03) beschreibt Fuchs noch einen weiteren "Ort mystischer Erfahrung". Im zweiten von ihr selbst verfassten Teil ihres Buches "Gesandter der Göttlichen Liebe" berichtet Gertrud von den ihr Leben und Glauben verändernden mystischen Erfahrungen im Zusammenhang des liturgischen Tages- und Jahresablaufs. Fuchs: "Heute denkt niemand beim Stichwort Mystik an Gottesdienst, für Gertrud aber sind Gottesdienste Orte mystischer Erfahrung. Sie erlebt eine tiefe Gottergriffenheit, wie sie später im 20. Jahrhundert etwa auch Dietrich Bonhoeffer widerfährt." Aus ihren Erfahrungen erwächst Gertrud geistliches Selbstbewusstsein. Sie empfängt die Gewissheit: Wenn sie jemandem rät, dann erhält der Ratsuchende Gottes Rat. Sie empfängt die Vollmacht, von Sünden freisprechen, Sünden im Namen Jesu lösen zu können.
"Mystiker sind erwachsen gewordene Christen", sagt Fuchs. Es braucht sie zu allen Zeiten. Sie leiden mit dem Mitmenschen, dem Leid widerfährt, und lassen ihn Gottes unendliche Liebe ahnen.