Gott für die eigene Geschichte danken
Wege zur Versöhnung - Tag des Herrn-Fastenaktion mit P. Anselm Grün
In Gesprächen begegne ich immer wieder Menschen, die mit ihrer Lebensgeschichte hadern. Sie fühlen sich benachteiligt gegenüber anderen Menschen. Sie haben in der Kindheit nicht die Geborgenheit erlebt, die sie erhofft hatten. Der Vater hat sie übersehen, weil er mit seiner Arbeit beschäftigt war. Die Mutter konnte sich zu wenig auf die Kinder einlassen, weil sie an sich selber genug zu verarbeiten hatte.
Verletzungen aus der Kindheit tauchen immer wieder vor ihren Augen auf. Manche bleiben ihr Leben lang auf der Anklägerbank sitzen und werfen den Eltern, den Lehrern, der Kirche vor, dass sie ihr Leben nachhaltig beschädigt haben.
Oft genug benutzen sie die Anklage als Vorwand, um sich um die Verantwortung für das eigene Leben zu drücken. Es ist immer bequemer, andere anzuklagen als selbst zu leben mit dem, was ich durch meine Geschichte mitbekommen habe. Doch wenn ich mein Leben lang Opfer bleibe, wird von mir kein Segen ausgehen. Ich werde immer unzufrieden bleiben und an mir und meiner Wahrheit vorbeileben.
Der erste Schritt der Versöhnung besteht darin, mich mit meiner eigenen Lebensgeschichte auszusöhnen. Statt andere anzuklagen, sage ich mir: Das ist meine Geschichte. Ich habe Schönes erlebt. Aber es gab auch Verletzungen und Kränkungen. Aber auch sie haben mich stärker werden lassen. Sie haben mich herausgefordert, mich auf den Weg zu machen und an mir zu arbeiten. Ich habe von den Eltern gesunde Wurzeln mitbekommen. Aber manches an meinem Lebensfundament ist auch brüchig. Ich muss beides anschauen und mich damit aussöhnen. Wenn ich mich mit meinen Verletzungen aussöhne, werde ich erkennen, dass sie bei allem Schmerz auch etwas Kostbares in sich bergen.
Hildegard von Bingen sagt, das Gelingen der Menschwerdung hänge davon ab, dass unsere Wunden zu Perlen verwandelt werden. Wo ich empfi ndlich bin, bin ich auch empfi ndsam. Dort werde ich behutsamer mit anderen umgehen. Und wo ich meine Wunden spüre, bin ich auch aufgebrochen für meine eigene Wahrheit.
Die Verletzungen brechen meine Masken entzwei, hinter denen ich mich so gerne verstecken möchte. Sie bringen mich in Berührung mit meinem wahren Kern. Und sie öffnen mich für Gott. Wenn ich meine Wunden Gott hinhalte, werden sie zu dem Ort, an dem ich Gott auf neue und tiefere Weise erfahre. Ich erlebe ihn als den wahren Arzt meiner Seele. Die Verletzungen halten mich lebendig. Sie hindern mich daran, nur oberfl ächlich dahinzuleben. Sie geben meinem Leben Tiefe. Versöhnung mündet in der Dankbarkeit. Ausgesöhnt mit mir selbst vermag ich für die einmalige Geschichte zu danken, die mein Leben darstellt.
Von Anselm Grün
Übung
Setze dich still vor eine Kerze, vor eine Ikone oder in die Kirche.
Stelle dir vor, dass Gottes heilende und liebende Nähe dich umgibt.
Und dann denke vor den wohlwollenden und liebenden Augen Gottes über deine Lebensgeschichte nach. (Was fällt dir ein? Wofür bist du dankbar? Welche schmerzlichen Erlebnisse kommen dir hoch?)
Halte die Wunden Gott hin. Stelle dir vor, dass Gottes Liebe in deine Wunden dringt und sie verwandelt.
Von Gottes Liebe berührt, hören die Wunden auf zu schmerzen. Sie dürfen sein. Sie werden zu Perlen, die dich schmücken.
Dann bitte um den Geist der Versöhnung, damit du Ja sagen kannst zu dir, so wie du durch deine Lebensgeschichte geworden bist.