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Wie ein Spiegel

Reflexionen über ein nicht nur optisches Phänomen

Angela Degenhardt

Wir benutzen ihn täglich, auch wenn er durchaus entbehrlich wäre. Einen der ersten Blicke des Tages schenken wir ihm und auch einen der letzten - dem Spiegel. Er zeigt uns unser Bild. Unverfälscht, ungeschminkt - so dass wir manches Mal zu unserem Spiegelbild sagen möchten, ich kenne dich nicht.

Wie wirklich ist ein Spiegelbild? Nur optische Täuschung, ein Trugbild? Was ein Spiegel zeigt? Nichts Eigenes - nur was er sieht, was zuvor in ihn fällt, gibt er wieder. Er nimmt das Licht auf, reflektiert es und je nach seiner Form, scheint das Bild der Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich oder es verzerrt sie ins Groteske.

Spiegel bieten Anknüpfungspunkte für Geschichten und beflügeln die Fantasie. In Büchern begegnen uns oft verzauberte Spiegel, die auf ihre spezielle Art die Wirklichkeit wiedergeben. Der Spiegel im Grimmschen Märchen Schneewittchen spricht die Wahrheit aus, die die Königin nicht sehen will. Im Roman Harry Potter gibt es den Zauber-Spiegel Nerhegeb (rückwärts gelesen: Begehren), der den tiefsten Herzenswunsch des Betrachters sichtbar macht: kein Spiegelbild, aber schon eine tiefe Wahrheit dessen, der in den Spiegel schaut - und in die Gefahr gerät, sich vor dem Spiegel zu verlieren, wenn er vergisst, was Wunschbild und was Realität ist.

Auch Menschen können wie Spiegel sein. Das erfahren Eltern, deren kleine Kinder ihr Verhalten nachahmen, oft gerade das, was man an sich lieber nicht sehen will. Noch Erwachsene reflektieren das Verhalten ihres Gegenübers: Unbewusst spiegelt man die Körperhaltung der anderen oder deren Stimmung; bewusst wird im Gespräch das Werkzeug Reflexion eingesetzt, im Bemühen zu erfassen, was der andere mir sagen will, um es richtig wiederzugeben, oder wir reflektieren, was wir erleben und was uns bewegt.

Auslöser meiner "Reflexionen" ist ein Spiegel- Wort Mechthilds von Magdeburg: "Du ... bist die Sonne und ich bin dein Spiegel." Ein starkes Bild, sich selbst als Spiegel Gottes zu sehen, des unendlich Großen, der sich unendlich klein macht, um den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Mechthild will seine Sonne in sich aufnehmen und sie widerspiegeln, dass sie auch anderen leuchtet.

Was für Spiegel sind wir? Welche Wirklichkeit spiegeln wir? Wie kann es uns gelingen, ein unverzerrtes Bild zu zeigen?

Wenn ein See die Wolken spiegeln möchte, muss er ganz ruhig werden. Wer Gott spiegeln will, muss diese Ruhe suchen und darf der Weisheit trauen, dass noch die kleinste Pfütze den Himmel spiegelt - selbst wenn sie manchmal das eigene Spiegelbild lieber nicht kennen will. Was zeigt Ihr Spiegel heute?

Angela Degenhardt, Gemeindereferentin in Halle

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