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Als Fronleichnam ein Volksfest war

Ein Blick in die Erfurter Geschichte zwischen 1674 und 1802

Erfurt (mh). Knapp 20 000 Menschen kamen zur Erfurter Fronleichnamsprozession allerdings nicht am vergangenen Sonntag, sondern in den Jahren zwischen 1674 und 1802.
Johann Wolfgang von Goethe war begeistert. Zwar sagt er von sich selbst, dass er kein Freund kirchlicher Zeremonien sei, aber die Erfurter Fronleichnamsprozession hatte es ihm angetan: "Das allerfürtrefflichste!" lautete sein Urteil. Und er dachte sogar daran, dass Weimarer Vogelschießen in dieser Form umzugestalten.

Ähnlich begeistert wie Goethe waren viele Erfurter und Thüringer. Immerhin zog die Prozession in den Jahren zwischen 1674 und 1802 bis zu 20 000 Menschen an, berichtet der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek. Berichte darüber gab es sogar in Frankreich und der Schweiz. Auffallend allerdings ist bei fast allen Äußerungen, dass sie die Äußerlichkeiten des Festes beschreiben, eine theologische oder geistliche Würdigung dieses kirchlichen Großereignisses aber fehlt, sagt Pilvousek. "Erstaunt fragt man sich, weshalb der eigentliche Anlass, die Feier und Verehrung der Eucharistie kaum Erwähnung findet." Warum das so ist, darauf suchte der Kirchenhistoriker in einem Festvortrag anlässlich des diesjährigen Fronleichnamsfestes Antworten.

Seit 1600 gab es in Erfurt jährlich drei Fronleichnamsprozessionen. Am Festtag selbst die Prozession des Welt- und Ordensklerus. Am Sonntag darauf die Prozession der Benediktiner vom Petersberg. Und wieder eine Woche später, am Sonntag nach der Fronleichnamsoktav, die große Fronleichnamsprozession. Sie war das Fest der Erfurter Katholiken, initiiert von den Jesuiten und gewollt von den Machthabern, dem Mainzer Kurfürsten, der seine Unterstützung unter anderem durch Gewehr- und Artilleriesalven bei der Ankunft des Allerheiligsten an den Altären lautstark zum Ausdruck brachte. Die Prozession zu den vier Altären in der Stadt war so gewaltig, dass die ersten wieder am Ausgangspunkt, der Lorenzkirche, ankamen, als die Letzten noch nicht gestartet waren. Mitgeführt wurden 349 Figuren mit biblischen und kirchengeschichtlichen Szenen.

Vor allem diese Figuren erregten das Interesse der Zuschauer. Eine zeigte beispielsweise den kleinen Abel, dargestellt von einem zehnjährigen Knaben, gekleidet wie Adam, der ein Lämmchen mit sich führte, und dem Kain folgte, in Pelz, mit Pudelmütze und einer fürchterlichen hölzernen Keule, so eine zeitgenössische Beschreibung, die zu dem Urteil kommt: "Diese Figur war der Unsinn allen Unsinns." Auch Simson beeindruckte mit einem gewaltigen hölzernen Kinnbacken, der eher an den eines Elefantens als eines Esels erinnerte. Gelegentlich gab es besondere Attraktionen: War der älteste Erfurter Einwohner katholisch, wurde er in der Prozession mitgetragen. Ein andermal stellte ein katholisch gewordener evangelischer Pfarrer einen bekehrten Ketzer dar. Für Belustigung sorgten auch die mitgehende Soldaten, die protestantischen Zuschauern mit dem Gewehrkolben den Hut vom Kopf schlugen, falls sie ihn nicht abgenommen hatten.

Schon bei Zeitgenossen geriet dieses Spektakel in die Kritik. Als die Jesuiten 1773 Erfurt verlassen mussten, verlor das Fest seinen Initiator. Der Geist der Aufklärung, wirtschaftliche Gründe und der Protest der evangelischen Oberschicht der Stadt führten dazu, dass das Mainzer Generalvikariat die Prozession aufhob, was wiederrum - allerdings nicht aus religiösen Gründen - den Prozest vieler evangelischer Bürger hervorrief. Bemühte man sich auch, 1802 die Prozession noch einmal umzugestalten, indem man die anstößigen Bilder wegließ, war ihr Ende doch besiegelt. Es zeigte sich, dass es gerade diese Bilder waren, die die meisten Besucher angelockt hatten, berichten Zeitzeugen.

"Fronleichnam und die Angerprozession waren in Erfurt über fast 150 Jahre religiöses Identifikationserlebnis, politische Kundgebung, Demonstration katholischer Rechtgläubigkeit, Mission und Volksfest in einem", urteilt Josef Pilvousek. Dennoch fällt sein Fazit ernüchternd aus: Zwar sei nicht nachprüfbar, welchen Einfluss das Fest auf Umkehr und Glaubenserneuerung des Einzelnen hatte und inwieweit es zur Verlebendigung und Weitergabe des Glaubens angeleitet habe. Abber: "Eine missionarische Erläuterung des Festinhaltes nach außen und damit eine Vermittlung der eigentlichen Botschaft sind partiell wohl nur in den Anfangsjahren gelungen." Am Ende hat die katholische Geistlichkeit die Prozession selbst beendet, weil sie mehr schadete als nützte. Etwas salopp formulierte der Kirchenhistoriker die Erkenntnis für heute: "Gemeindefeste mit Bratwurst und Freibier können theologisch-seelsorgliche und geistliche Anstrengungen nicht ersetzen."

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