Für andere Menschen sehen
"Bergschüler" als Assistenten blinder Tagungsteilnehmer
Auf den ersten Blick eine ganz normale Tagungssituation an einem Freitag im Marcel-Callo- Haus (MCH), dem katholischen Jugend- und Erwachsenenbildungshaus - wären da nicht einige Besonderheiten. Rot-weiße Klebebänder an den Stufen in den Fluren; im Konferenzraum nicht nur Teilnehmer aus allen Teilen Deutschlands, sondern auch einige Hunde, die auf ihren nächsten "Arbeitseinsatz" warten. An einigen Zimmern zusätzlich zur Zimmernummer Punktschriftkärtchen.
In einem Beratungsraum sitzt eine Gruppe junger Leute aus der Berufsbildenden Schule St. Elisabeth Heiligenstadt mit Ulrike Hottenrott, Kreisorganisation Nordhausen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), und Silke Senge, Leiterin der "Überregionalen Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte in Trägerschaft des BSV Thüringen" zusammen: Doreen Knauer aus Treffurt, Andrea Bohn aus Bad Sooden-Allendorf, Christopher Rösler aus Gotha, Katharina Schützel aus Rostock, Georg Richter aus Dessau-Rosslau, Valeska Lieberknecht aus Heiligenstadt und Agnieszka Jedruszak aus Duderstadt, deren Heimat im polnischen Marienburg ist. Kurze Zeit später kommt ihre Mitschülerin Schwester Gertrud, die junge Zisterzienserin aus dem Kloster Helfta hinzu. Phyllis-Nastasja Kurths wird ab morgen die Reihen verstärken. "Sind wir sehr kompliziert?", fragt die blinde Ulrike Hottenrott. Nein, kompliziert ist niemand, aber vieles ist ungewohnt. Die Schülerinnen und Schüler haben Neuland betreten.
Unter dem Titel "Naturlandschaften barrierefrei für blinde und sehbehinderte Besucher" tagt vom 12. bis 14. Juni die Koordinierungsstelle Tourismus im DBSV e.V. - mit insgesamt rund sechzig sehenden, sehbehinderten und blinden Teilnehmern. Unter dem Motto "Augen sein für andere" helfen die jungen Leute, die sich an der Bergschule St. Elisabeth in einer Erzieher-Ausbildung befinden, als Assistenten für blinde Gäste.
Erste Erfahrungen werden ausgetauscht: Premiere war am Donnerstag Abend, als sie bei der Anreise die Zimmer erläutert haben. Sehende erfassen selbst, wo sich im Bad des Hotelzimmers die Toilettenspülung befindet, wo die Handtücher liegen und wo genau im Zimmer eine Garderobe angebracht ist. "Danke, Sie sind sehr freundlich und hilfsbereit, aber das nützt mir nichts, ich kann auch bei Beleuchtung nichts sehen." Erfahrungen eines Schülers, der seinem Gast erklärt hatte, wo sich der Schalter für die Deckenbeleuchtung befindet. Auch beim Frühstück haben sie sich wacker geschlagen, mitgeteilt, wo der rohe und wo der gekochte Schinken liegt, welche Brötchensorten angeboten werden. Dass sich blinde Menschen beim Essen nach dem Uhrzeigersinn orientieren, wissen die "Bergschüler" seit ihrer Vorbereitung. So sind die folgenden Informationen für sie kein Buch mit sieben Siegeln mehr: "Das Fleisch liegt auf 18 Uhr, die Kartoffeln auf 15 Uhr" oder auch "Das Gemüse liegt auf halb sechs, es gibt grüne Erbsen."
Im Tagungsraum tut sich was. Pause und damit der nächste Einsatz für die ehrenamtlichen Betreuer, diesmal am Imbissbüfett. "Orangensaft oder lieber Kaffee, den Kaffee mit Zucker und Milch?" Sie weisen auf die Möglichkeit hin, gemeinsam auf die Terrasse zu gehen. Und sie signalisieren: "Ich bleibe bei Ihnen stehen, falls Sie etwas brauchen." Die Pause ist zu Ende. Jetzt soll der Naturpark Eichsfeld vorgestellt werden. Auf die Schüler warten zwei Höhepunkte: Die Begleitung per Bus in den Nationalpark Hainich am Nachmittag und die Stadtführung für blinde und sehschwache Bürger am Samstag.
Von Christine Bose