Gerechtigkeitslücken sind das Problem
Der letzte DDR-Ministerpräsident zum Stand der deutschen Einheit
Leipzig (mh) - Eine weitgehend positive "Zwischenbilanz" der deutschen Einheit sieben Jahre danach hat der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, gezogen. "Die Richtung und der Trend stimmen", sagte de Maiziere bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Winterseminare. Allerdings gestand er auch "verhängnisvolle Fehleinschätzungen" der Lage in der DDR und Schwierigkeiten mit der inneren Einheit ein. Als wesentliches Problem sieht er dabei bestehende "Gerechtigkeitslücken". Wenn es diese Lücken nicht gebe, könne der Anpassungsprozeß ruhig länger dauern, meint de Maiziere. "Die Menschen verschließen sich nicht den Strukturveränderungen.
Eine Gerechtigkeitslücke macht er etwa in der Schließung der Kaligrube Bischofferode aus: Betriebswirtschaftlich könne man nicht eine Tonne Kalisalz mit 60 Mark subventionieren, doch das müsse dann auch für die Ruhrkohle gelten, die mit 220 Mark pro Tonne subventioniert werde. Eine weitere "Lücke" entdeckt de Maiziere in den "Transferleistungen": Wenn in Bayern eine Autobahn gebaut wird, sei das Bundesaufgabe, in Sachsen eine "Transferleistung". Nur rund 40 Prozent der Leistungen für die neuen Länder seien echte Transferleistungen
"Die Einheit will aber nicht nur bezahlt sein, sondern muß auch mit dem Herzen gewollt werden", betonte de Maiziere. Die Verantwortung sei zu häufig auf die Regierung abgeschoben und zu wenig als eigene Aufgabe angesehen worden. Die Verschiedenheit der Biographien und der Einstellungen in Ost und West sollte nicht nur in Toleranz respektiert, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden, hieß seine Forderung. Denn der Grund zum Klagen, den es gäbe - wenn auch auf "hohem Niveau" - beziehe sich nicht nur auf materielle Dinge, sondern auch auf immaterielle
Wie es sich für eine richtige Bilanz gehört, stellte de Maiziere Soll und Haben gegenüber. Auf der Haben-Seite verzeichnete er hohe Wachstumsraten, die Entwicklung der Infrastruktur oder auch die Sanierung der historischen Innenstädte. Und als Beweise liefert er viele beeindruckende Zahlen: So habe sich der von den Ostdeutschen produzierte Anteil am Bruttoinlandprodukt von 1991 bis heute verdoppelt und zwar auf zwölf Prozent (allerdings noch zu wenig, denn die Ostdeutschen bilden 20 Prozent der deutschen Bevölkerung). Oder die Zahl der Telefonanschlüsse, von denen die DDR in 40 Jahren 1,2 Millionen gelegt habe. In den letzten fünf Jahren waren es 4,5 Millionen neuer Anschlüsse. Allerdings gab es etliche Punkte, die de Maiziere auf der Soll-Seite verzeichnete: bestehende Rentenungerechtigkeiten (obwohl es den meisten Rentnern besser gehe), die doppelt so hohe Zahl von Firmenpleiten oder die Arbeitslosigkeit. Außerdem mahnt er die Deutschen, sich nicht zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen: "Die Probleme Osteuropas sind auch die Existenzprobleme des Westens.
Kritische Fragen, auf die für manchen Zuhörer zu positive Sicht der Dinge, gab es in der Diskussion, beispielsweise danach, ob manches nicht doch voraussehbar war, oder ob es nicht hätte besser langsamer gehen sollen oder ob manches nicht gar falsch war. Der Streit darüber wird wohl vorerst nicht enden, meint de Maiziere, wenn er mit einem Vergleich aus der Medizin antwortete: "Die sichersten Diagnosen hat der Pathologe.
Ein Interview mit de Maiziere finden Sie in Ausgabe 6/97
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.02.1998