Eine Hilfe, sich selbst zu erkennen
Das Enneagramm (1)
Das Enneagramm ist eine alte Typenlehre, die neun verschiedene Charaktere beschreibt. Die vergröbernde Reduktion menschlichen Verhaltens auf eine begrenzte Anzahl von Charaktertypen hat es mit vielen anderen Typologien gemeinsam. Diese Modelle versuchen unter verschiedenen Voraussetzungen der Erfahrung Rechnung zu tragen, daß die Menschen zwar verschieden sind, es aber Menschen gibt, die sich auffallend ähneln.
Jede Typologie läßt sich mit einer Landkarte vergleichen, die das Ziel hat, den Überblick über den Bereich der menschlichen Seele zu erleichtern. Keine ist umfassend und keine die Sache selbst, doch können sie ausgesprochen hilfreich sein. Alle Typologien haben den Nachteil, daß sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Einzelnen notgedrungen vernachlässigen. Deshalb begegnet man ihnen verständlicherweise mit großen Vorbehalten.
Die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten hat nur Sinn, wenn sie mir die Möglichkeit der Veränderung und Befreiung von Druck und Determiniertheit aufzeigt. Diese Möglichkeit eröffnet das Enneagramm und das ist seine Stärke. Über das Beschreiben von Zuständen hinaus enthält es eine innere Dynamik, die auf Entfaltung und Befreiung zielt. Es ist mehr als ein unterhaltsames Selbsterfahrungsspiel und erfordert einiges von dem, der es so aufnehmen möchte, wie es gemeint ist: Es geht um Veränderung und Umkehr. Es konfrontiert uns mit den Festlegungen und Gesetzen unter denen wir - meist unbewußt - leben, um uns zu ihrer Überwindung und zu Schritten in den Raum der Freiheit einzuladen.
Das Enneagramm ist eine sehr alte "Landkarte". Es wurde wahrscheinlich jahrhundertelang von geistlichen Meistern und Seelenführern benutzt. Seine Wurzeln reichen, wie manche meinen, über 2000 Jahre zurück. Die alten Wüstenväter sollen dieses Wissen angewandt haben und relativ sicher ist, daß es im Mittelalter von einigen Bruderschaften der Sufis (islamische Mystiker) weiterentwickelt wurde.
Das Enneagramm beansprucht nicht, "wissenschaftlich" erhärtet zu sein, obwohl es klinische Untersuchungen gibt. Man sollte es mehr als
weisheitlichen Zugang zur Innenwelt des Menschen verstehen, eine Synthese aus Spiritualität und Psychologie, der die Tradition östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung sich immer verpflichtet sah, indem sie den engen Zusammenhang seelisch-charakterlicher und religiös-spiritueller Reifung betonte. Es geht um die Ganzheit menschlicher Existenz und die Frage: Warum stoßen wir bei unserer Auseinandersetzung mit dem Leben immer wieder auf uns selbst und unsere engen Grenzen, anstatt durchzustoßen zur Fülle des Lebens, zum Sinn, zur Transzendenz?
Ausgangspunkt des Enneagramms sind die Sackgassen, in die wir Menschen geraten, wenn wir versuchen, unser Leben vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Die Außenwelt begegnet dem Kind zunächst in Gestalt seiner Eltern und Geschwister, später durch Kameraden, Lehrer, die Werte und Normen der Gruppe, Religion und der Gesellschaft. Viele Faktoren prägen unser Inneres und verdichten sich zu "Stimmen", die sich oft in prägnanten Sätzen zusammenfassen lassen und uns begleiten. Sie wirken sich meist unbewußt auf unser Leben aus und beeinflussen Charakter und Verhalten.
Das heranwachsende Kind reagiert auf diese "Stimmen" indem es bestimmte Ideale verinnerlicht ("Ich bin gut, wenn ich ..."). Es entwickelt Vermeidungsstrategien, um Strafen oder unangenehmen Folgen seines "Fehlverhaltens" zu entgehen und baut spezifische Abwehrmechanismen auf. Schuldgefühle treten immer dann auf, wenn das gesteckte Ideal nicht erreicht oder erfüllt wird. Die eigentliche Fehlhaltung bleibt dabei meist verborgen.
Das Enneagramm deckt diese illusionären Ideale und falschen Schuldgefühle auf und befähigt uns, unserem wirklichen Dilemma ins Auge zu sehen. Es kann helfen, einen Blick für unsere mögliche Zukunft und unser wahres Selbstsein in dieser Welt als Schöpfung zu bekommen. Die alten Meister und Seelenführer wollten, daß die Menschen ihre Blockaden und Vorurteile beziehungsweise ihre Art der Wahrnehmung erkennen, das heißt, ihre Angewohnheit, das Leben aus einem verengten, erstarrten Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten. Im Mittelalter nannte man solche Verengungen Passionen oder Leidenschaften. Sie führen dazu, daß ich jenen Teil des Lebens, den ich erkannt habe oder beherrsche, für das Ganze halte. Diese Leidenschaften gilt es zu erkennen und zu lernen, die größere Wirklichkeit "objektiv" wahrzunehmen. Das Enneagramm kann helfen, unsere Selbstwahrnehmung zu läutern, schonungslos ehrlich gegen uns zu werden und besser zu unterscheiden, wann wir nur unsere eigenen inneren Stimmen und Prägungen hören, Gefangene unserer Vorurteile sind, und wann wir fähig sind, uns Neuem zu öffnen.
Hier besteht eine enge Verwandtschaft zur geistlich und psychologisch hochsensiblen Methode der Exerzitien, entwickelt von Ignatius von Loyola. Auch hier werden durch die "Unterscheidung der Geister" die Fallen aufgedeckt, die die Seele gefangen halten, jene inneren und äußeren Impulse und "Stimmen", die uns fortwährend beeinflussen.
Die Unterscheidung vollzieht sich, kurz gesagt, in drei Schritten. Es geht darum, (1.) die verschiedenen Regungen zu verspüren, die in der Seele verursacht werden, (2.) sie zu "erkennen", das heißt, Herkunft und Zielrichtung zu verstehen und zu beurteilen, ob sie mich konstruktiv auf das Sinn-Ziel meines Lebens hinlenken oder nicht und (3.) entsprechend meiner Entscheidung auf diese Regungen zu antworten, um in diesem Fall zur "christlichen Freiheit" zu finden und in Beziehung zu treten zum "Göttlichen".
Da die Weisheit des Enneagramm dabei eine wertvolle Hilfe sein kann, haben eine Reihe von Exerzitienbegleitern begonnen, das Enneagramm in die traditionellen ignatianischen Übungen einzubeziehen. In vergangenen Jahrhunderten wurde das Enneagramm nur mündlich vom Meister auf den Schüler tradiert und wirkte mehr im Verborgenen. Seit es in der Mitte dieses Jahrhunderts zu ersten Aufzeichnungen kam, entstanden viele Bücher und Veröffentlichungen, und das Enneagramm hat weltweit großes Interesse und erstaunlich viel Resonanz gefunden.
Umso erstaunlicher, da es eher von einem negativen Ansatz ausgeht und nicht dem Selbstwertgefühl schmeichelt mit einem aufmunternden "Du bist schon okay!". Die Beschäftigung mit dieser Typologie kann mich zu ernüchternden und erschütternden Aha-Erlebnissen führen. Ich kann etwa erkennen, daß vieles, was ich tat, sicher richtig war, aber aus falschen Beweggründen heraus geschah oder daß meine positiven Gaben und Anlagen auch zum Verhängnis werden können, weil ich zu sehr darauf fixiert bin. Viele tiefe Zusammenhänge können mir aufgehen und ich erkenne plötzlich die Spiele des "falschen Selbst", in die ich verstrickt bin.
Es geht beim Enneagramm um jene innere Arbeit, die unserem Lebensweg Echtheit verleihen kann. Das verläuft nicht ohne Schwierigkeiten. Viele meiner nicht hinterfragten Voraussetzungen und vordergründigen Lösungen werden nicht mehr funktionieren wie bisher, denn ich erkenne auch die dunklen Seiten meiner Begabungen und Fähigkeiten.
Wir Menschen sind fixiert auf das, was uns "natürlich" zufällt. All das entwickeln und verstärken wir besonders in den ersten 30 Jahren, in der Aufbauphase. Das ist richtig und notwendig. Irgendwann in der Mitte des Lebens wird dieses Spiel immer fader und freudloser. Was einst Lust war, kann zur Last werden (midlife-crisis). Ich spüre, daß mein Selbstbild, die Fremdbilder von mir und mein wirkliches Leben nicht mehr zusammenpassen. Wenn ich zulassen kann zu sein, wie ich mich tatsächlich erlebe, brauche ich die Bilder von mir nicht mehr zu verteidigen. Ich werde barmherziger mit mir und mit den anderen, denen es auf ihre Weise ganz ähnlich ergeht. Wir könnten die Angst und die Waffen ablegen und uns als Mitmenschen begegnen.
Das Enneagramm kann auch helfen alle idealisierten und moralistisch aufgeladenen Vorurteile abzubauen, wenn wir anfangen, Welt und Menschen so zu nehmen, wie sie sind, mit ihren Licht- und Schattenseiten, die zusammengehören und sich bedingen. Die Akzeptanz von Stärke und Schwäche und der ausgewogene Umgang damit verleihen mir innere Würde und Selbstwertgefühl, sie öffnet mich für neue, bereichernde und ergänzende Verhaltens- und Erlebnisweisen. Das ist die Einladung des Enneagramms
Elisabeth Maulhardt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.06.1998