Die Typen und ihre Dynamik
Enneagramm (2)
Im ersten Teil der Ausführungen über das psychologische Typenmodell Enneagramm ging es vor allem um die Vorstellung des Modells, seine geschichtlichen Wurzeln, seine Chancen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen in der Anwendung. Im folgenden Teil soll näher auf die einzelnen Typen und ihre Dynamik eingegangen werden.
Das Enneagramm beschreibt neun Charaktermuster, das heißt, neun verschiedene Weisen unsere Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren mit all den Besonderheiten, Stärken und Einseitigkeiten. Dieses gleichförmige, musterhafte Denken, Fühlen und Verhalten ist uns Menschen praktisch zur Gewohnheit geworden und wir finden es ganz normal. Über die Entstehung solcher Charaktermuster gibt es verschiedene Vorstellungen und Theorien.
Nach Ausführungen von A. Huxley hängt es entscheidend von drei Dingen ab, was und wie ein bestimmter Mensch wird: seinen Erbfaktoren, seiner Umgebung und davon, was er in freier Wahl aus Erbe und Umwelteinflüssen macht. Ich bin also weder völlig determiniert noch völlig frei in meinem Verhalten.
Wie im ersten Teil schon erwähnt, entwickelt das Kind bestimmte Idealvorstellungen, Vermeidungsstrategien und Abwehrmechanismen, um in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu "überleben". Das ist eine kreative Eigenleistung, die Achtung und Wertschätzung verdient.
Wie können solche Muster aussehen? Wir wollen zunächst die existentiellen Grundbedürfnisse betrachten, die den Grundenergiebereichen des Enneagramms entsprechen. Das Enneagramm ordnet sich um drei zentrale, existentielle Bedürfnisse, deren angemessene Befriedigung für eine gesunde menschliche Persönlichkeitsentwicklung von Wichtigkeit sind und von denen keines besser oder wertvoller als das andere ist.
Erstens: Das Bedürfnis nach Autonomie: Ich möchte selbständig sein, ein klares Ich-Gefühl haben, mich wehren und verteidigen können, vitale Impulse spüren und spontan reagieren, meinen Raum beanspruchen und abgrenzen. Das entspricht im Enneagramm der Bauchenergie (=Bauchzentrum).
Zweitens: Das Bedürfnis nach Beziehung: Ich möchte geliebt werden und lieben, geachtet werden, Freundschaft und Fürsorge erfahren und geben, in Beziehung leben, Kontakte zu Mitmenschen pflegen. Das entspricht der Herzenergie (=Herzzentrum).
Drittens: Das Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit: Ich möchte mich sicher fühlen, die Dinge und Situationen überblicken, Zusammenhänge erkennen, Klarheit haben. Diese Denk- und Wahrnehmungsfunktionen entsprechen der Kopfenergie (=Kopfzentrum).
Ideal wäre es, wenn alle diese Energien im Gleichgewicht zueinander zur Verfügung stünden, um diese meine existentiellen Bedürfnisse befriedigen zu können und somit ganzheitlich zu leben. In der Realität des Lebens jedoch stehen die Grundbedürfnisse in bestimmter Spannung und im Gegensatz zueinander. Im Zuge der persönlichen Entwicklung hat dieses spannungsreiche "Bedürfnisgleichgewicht" eine bestimmte Akzentuierung erfahren, indem eines dieser Grundbedürfnisse stark unbefriedigt blieb und somit zum Problem wurde.
Für jeden dieser "zu-kurz-gekommenen" Energiebereiche kennt das Enneagramm drei verschiedene Problemlösungsversuche:
Erstens: Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, kann ich die spezifische Energie blockieren, das heißt, die Impulse, die von dieser Energie ausgehen, abschalten, um so den einst stark empfundenen Mangel nicht mehr zu spüren, beziehungsweise aus dem Bewußtsein zu streichen. Daraus ergibt sich das innere Dreieck des Enneagramms mit den Typen 9-3-6.
Zweitens: Ich kann die Impulse der Grundenergie so überbetonen, daß sie in meinem Leben dominieren. Auf diese Weise vermeiden die Typen 8-2-5 die dereinst schmerzliche Mangelerscheinung.
Drittens: Des weiteren gibt es die Möglichkeit, die Grundenergie, die ich in der frühen Kindheit (leider meist unbewußt) als Mangel erlebt habe, gegen mich selbst zu richten. Zum Beispiel aus selbstbehauptender Abgrenzung (Bauchenergie) wird Aggression gegen die eigene Person (Typ 1), aus der auf andere Menschen gerichteten Herzenergie wird "Selbstverliebtheit" (Typ 4), die Denkfunktionen der Kopfenergie werden zur Selbststimulierung umfunktioniert (Typ 7).
Die Konzentration auf eines dieser Problemlösungsmuster in einem Energiebereich führt zu einem Ungleichgewicht der Reaktionszentren, in dem ein Bereich die Oberhand gewinnt. Menschen des "Bauchzentrums" reagieren vorzugsweise "instinktiv", spontan und stellen sich der jeweiligen Situation ("Hier bin ich, geht mit mir um, ich reagiere"). Für sie ist die Welt eine Art Kampfplatz. Sie konzentrieren sich darauf, präsent und vor allem, sie selbst zu sein. Ihre Energie ist darauf gerichtet, was sein sollte beziehungsweise getan werden müßte und sie haben hohe Erwartungen an sich selbst und an andere. Nach außen wirken sie oft selbstsicher, auch wenn sie es nicht sind.
Die Energie der "Herzmenschen" bewegt sich auf andere Menschen zu. Ihre Frage in aktuellen Situationen ist: "Mag mich der andere, oder lehnt er mich ab?". Die Welt der subjektiven Gefühle ist ihre Domäne, ihr Thema zwischenmenschliche Beziehungen. Sie tun sich schwer, bei sich selbst zu bleiben, sehen das Leben als Aufgabe, die in Fürsorge bewältigt werden muß. Wichtige Begriffe sind Prestige, Image aber auch Verantwortungsgefühl. "Herzmenschen" werden oft beherrscht von dem, was andere über sie denken und passen sich den jeweiligen Erwartungen der anderen an.
Die Menschen vom "Kopftyp" haben das Denken als für ihr Leben wichtigste Funktion trainiert. Es ersetzt weitgehend ihre eigenen Gefühle und Spontaneität. Ihre zentrale Frage lautet: "Wie hängt das alles zusammen und in welcher Beziehung steht alles zueinander?". Es geht ihnen um den Gesamtzusammenhang und dessen Interpretation. Erst wenn sie die Situation durchschauen, können sie erkennen, wo ihr Platz darin ist. Nach außen wirken sie eher sachlich und wenig emotional.
Alle diese allgemeinen Aussagen über die Vertreter eines Energiezentrums enthalten eine breite Palette konkreter Ausformungen dieser Grundenergie. Der in den folgenden Teilen gegebene Überblick über die "neun Gesichter der Seele" kann nur sehr holzschnittartig einige Konturen hervortreten lassen. Nicht alle Merkmale treffen auf alle Vertreter eines "Typs" zu und machmal muß durch Übertreibung das "Typische" deutlicher gemacht werden. Da die Charaktermuster in bestimmter Beziehung auf dem Kreis angeordnet sind, steht jeder "Typ" in Wechselwirkung zu seinen "Nachbartypen" und hat bestimmte Anteile seines rechten oder linken "Flügels" integriert. Auch kann ich mich innerhalb meines "Typs" auf verschiedenen Reifestufen befinden, das heißt, mehr oder weniger bewußt und integriert leben. (wird fortgesetzt)
Elisabeth Maulhardt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.06.1998