Die Typen fünf bis neun
Das Enneagramm (4)
Im letzten Teil der Serie über das Enneagramm werden die Typen 5 bis 9 vorgestellt:
Typ 5: "Fünfer" brauchen ihre Privatsphäre und bevorzugen überschaubare und vertraute Situationen. Sie sind fragend und forschend daran interessiert, allen Dingen auf den Grund zu gehen und Zusammenhänge aufzudecken. Primärerfahrung vieler "Fünfer" ist eine innere Leere, die sie versuchen mit viel Wissen zu füllen. Die Sehnsucht nach Kontakt kollidiert mit der Angst vor Verletzung der Privatsphäre. Ihre Schwierigkeit, Gefühle direkt zu zeigen, läßt sie oft gefühlskalt und sehr "verkopft" erscheinen. Sie besitzen eine scharfe Beobachtungsgabe und können Situationen genau auf den Punkt bringen.
Kehrseite der scheinbaren Gefühllosigkeit ist die Stärke der "Fünfer", auch in chaotischen Situationen einen klaren Kopf und innere Ruhe zu bewahren, was helfen kann, Krisen durchzustehen. Ihre Fähigkeit, fair und objektiv zu bleiben, macht sie zu vorurteilsfreien Ratgebern und ermöglicht anderen, sich selbst objektiv und nüchtern wahrzunehmen. Die Negativdynamik führt sie über Wirklichkeitsfremdheit und Gefühllosigkeit in kompensatorische Genußsucht (Typ 7), die jedoch keinen echten Genuß ermöglicht. Sie entgehen ihrer zwanghaften Fixierung auf Abwehr, Selbstschutz und Rückzug, indem sie sich entgegen die Pfeilrichtung auf Typ 8 zu bewegen und innere Stärke spüren. Sie können dann mehr aus ihrer Leibmitte heraus leben und profitieren als Persönlichkeit, wenn sie die Bereitschaft der "Achter" annehmen, in den Schlachten des Lebens ruhig auch einige Schrammen davonzutragen und dafür erdverbundener und lebendiger zu werden.
Typ 6: Menschen, die diesem Typ angehören, haben großartige Gaben. Sie sind kooperativ, teamfähig, zuverlässig und in Beziehungen warmherzig. Für Menschen, die sie lieben, setzen sie sich mit Leib und Seele ein. Sie haben ein Gefühl für das, was möglich und unmöglich ist und wittern alle Gefahren, die in der Umwelt lauern. "Sechser" sind sehr loyal und neigen zu Konformismus. Wenn sie in ihre Selbstverwicklungsspirale geraten, treibt sie die Angst und der zermürbende Selbstzweifel zum Fundamentalismus und sie bekämpfen alles, was verunsichert und ihre Identität bedroht, durch übertriebene Aktivität (Typ 3). Die mißtrauische Aufmerksamkeit, mit der "Sechser" ihre Umwelt und Mitmenschen beobachten, empfinden Beziehungspartner oft als schwierig und der rapide emotionale Wechsel zwischen Nähe suchenden Reaktionen und abwehrend-aggresivem Verhalten läßt "Sechser" launisch und unberechenbar erscheinen. Die schmerzliche Erfahrung, sich nicht auf die Bezugspersonen bedingungslos verlassen zu können und in seiner Schutzlosigkeit den Angriffen anderer ausgeliefert zu sein, ließ die "Sechser" schon als Kind chronisch mißtrauisch werden. Sie erleben Befreiung, wenn sie ihre Angst bewußt anschauen und Vertrauen wagen. Sie brauchen einen Raum der Geborgenheit, wo sie sich nicht verteidigen müssen und sich als angenommen erfahren (Typ 9). Das führt sie zu Halt und Ruhe in sich selbst und macht sie fähig, auch anderen diese Sicherheit und Geborgenheit zu schenken.
Typ 7: Die Denkenergie der "Siebener" richtet sich auf die Planung von schönen und genußvollen Ereignissen. Glücklichsein und das Leben genießen ist ihr Ideal und sie erfüllen sich ihre Bedürfnisse, wo immer es nur geht. Sie sind fröhlich, humorvoll und strahlen Optimismus aus. Solange es positive Optionen in ihrem Leben gibt, fühlen sie sich gut und sind angenehme Gesellschafter. Menschen dieses Typs haben jedoch eine tiefliegende Ahnung und Angst, daß es innere Abgründe und Dunkelheiten im Leben gibt, die sie um jeden Preis vermeiden möchten, denn negative Gefühle und Konflikte halten sie nicht gut aus. Schwierigkeiten werden eher positiv umgedeutet und unangenehme Beziehungssituationen vermieden. Schmerzen werden nicht gefühlt, sondern durch Rationalisierung ("Kopftyp") verlagert. Glück und Freude der "Siebener" werden genauso im Kopf produziert wie die Angst der "Sechser". Optimismus (Typ 7) und Pessimismus (Typ 6) liegen direkt nebeneinander. Beides sind geistige Mechanismen, um mit den Abgründen und Gefährdungen des Lebens zu Rande zu kommen. In der Selbstverstrickungsdynamik der "Siebener", wenn das Vemeiden von Schmerz und Leid nicht mehr gelingt, können sie sehr rechthaberisch und zornig die Erfüllung ihrer eigenen Prinzipien einklagen (Pfeilrichtung zu Typ 1). Die Schuld am eigenen Elend wird nach außen verlagert. Eine Lebensaufgabe ist es, den vorschnellen Rationalisierungen auf die Schliche zu kommen und zu einem wachen Realismus zu finden. Die Gabe eines gereiften "Siebeners" ist nüchterne Freude und Weisheit (Integrationspunkt Typ 5).
Typ 8: "Achter" leben gern exzessiv und nehmen gewöhnlicherweise von sich selbst nur die starken, sicheren Anteile wahr. Sie lieben das pralle volle Leben und feiern gern. "Achter" besitzen ein Gespür für Gerechtigkeit und Wahrheit und treten selbstsicher und raumgreifend auf. Sie können ein Fels der Verläßlichkeit für andere sein und ein großes Maß an Verantwortungsgefühl und Fürsorge entwickeln, sowie große Energien freisetzen, um in Auseinandersetzungen zu siegen. "Achter" haben verinnerlicht, daß die Starken die Welt beherrschen und deshalb beschlossen, Stärke zu entwicken, Widerstand zu leisten, Regeln zu brechen und lieber zu herrschen, als beherrscht zu werden. Sie können aber auch sehr streng mit sich selber sein und müssen alles unter ihre Kontrolle bringen. Der Freund wird beschützt, der Feind bekämpft. Ihre Leidenschaft für Gerechtigkeit und Wahrheit führt dazu, daß sie sich häufig auf die Seite der Unterdrückten und Schutzlosen stellen, denn sie spüren unbewußt, daß hinter ihrer harten Fassade und Rauhigkeit ein kleines, verwundbares Kind verborgen ist. Die Gefühle von Zärtlichkeit und Verwundbarkeit sind allerdings in ihnen tief vergraben und werden im Glücksfall nur ganz nahen Beziehungspersonen gezeigt. Ihre Angriffs- und Streitlust wirkt auf andere oft aggressiv und bedrohlich, ist aber meist nur ihre spielerische Art von Kontaktaufnahme. "Achter" sind risikofreudig und nehmen Herausforderungen gerne an, auch können sie Schmerzen leichter ertragen als alle anderen Enneagrammtypen.
Wenn sie in die Selbstverstrickungsspirale geraten (Pfeilrichtung Typ 5) und nur noch aggressive Bauchenergie leben, isolieren sie sich total, ihre Innenwelt wird hohl und leer und sie können sarkastisch werden. Zu ihren Lebensaufgaben gehört es, sich mit der Machtfrage auseinander zu setzen, sie müssen lernen, sich an die Regeln zu halten, deren Befolgung sie auch von anderen erwarten, sowie barmherzig und fürsorglich mit ihrer und der Schwachheit anderer umzugehen (Integrationspunkt Typ 2). Gereifte "Achter"-Persönlichkeiten haben wie kaum ein anderer Typ die Gabe, andere Menschen an ihre wirklichen Potentiale und ihre Echtheit heranzuführen.
Typ 9: "Neuner" verstehen es, andere ohne Vorurteile zu akzeptieren und können unparteiisch die positiven Aspekte verschiedener Interessen sehen und wertschätzen. Sie eignen sich daher sehr als Friedensstifter und Schiedsrichter. Ihr Sinn für Fairness macht sie im reifen Entwicklungsstadium zu engagierten Kämpfern für Frieden und Gerechtigkeit. Im allgemeinen vermeiden sie offene Auseinandersetzungen und möchten harmonisch und friedlich mit allen Menschen leben. Sie spüren sich in die Ansichten und Gefühle anderer hinein und haben Mühe, sich davon abzugrenzen, da sie sich selbst nicht wertschätzen und für wichtig erachten können. Sie scheinen das Autonomiethema ihres Bauchzentrums dadurch zu lösen, indem sie die Autonomie ganz aufgeben, um dadurch Konflikte zu vermeiden. Sie wirken sehr passiv und träge, können aber auch Ruhe und Gemütlichkeit ausstrahlen. Die Entscheidungsschwierigkeit und Initiativlosigkeit der "Neuner" ist für ihre Beziehungspartner eine harte Geduldsprobe, die, wenn sie durchgehalten wird, auch reichliche Belohnung erfährt durch liebevolle und treue Unterstützung in allen Lebenslagen. Die Selbstverstrickungsdynamik führt "Neuner" in Richtung Typ 6 zu immer größerer Angst und Zweifel am eigenen Selbstwert, wodurch sie unfähig werden, noch irgendetwas zu tun. Zum Geschenk für die Mitmenschen werden sie mit ihrer Entwicklung gegen den Pfeil (Richtung Typ 3) zu entschlossener Tat und engagiertem Einsatz für eine bessere Welt.
Da letzendlich alle menschlichen Reaktionsweisen in mir angelegt sind und ich im Lauf meines Leben immer mehr Verhaltensmuster in mir entfalte, kann es zunächst sehr schwer sein, mein Muster in diesem Modell zu finden. Am ehesten kann mir dies gelingen, wenn ich mich in die Lebensphase zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr versetze, wo diese Energie besonders deutlich in meinem Handeln und Verhalten zutage tritt. Diese Kurzdarstellung ist jedoch wenig geeignet dazu und soll lediglich einen kleinen Einblick in die Struktur und Dynamik dieses psychologischen Modells vermitteln.
Elisabeth Maulhardt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.07.1998